Sisyphusarbeit in einer »verwalteten Welt«

Notizen von einer Tagung über »Literatur in der neuen Klassengesellschaft«

  • Holger Pauler
  • Lesedauer: 3 Min.

Was können Literaten angesichts der vollständigen Inwertsetzung der Gesellschaft tun? Das Netzwerk »Richtige Literatur im Falschen« versuchte am Wochenende unter dem Titel »Literatur in der neuen Klassengesellschaft« Antworten darauf zu geben. Die Veranstaltung im Fritz-Hüser-Institut auf der Dortmunder Zeche Zollern war die vierte ihrer Art. 2015 und 2016 hatte man sich im Berliner Brecht-Haus getroffen, im vergangenen Jahr im Forum Stadtpark Graz

Das Wirken kapitalistisch-patriarchaler Strukturen bis in das intellektuelle Milieu hinein sorgt bei dem Großteil der Schriftsteller für Unbehagen. Ihnen fehlen die Worte, zumindest finden sie kaum Gehör - es sei denn, sie stehen auf der Seite des wütenden Volks. Der »anschwellende Bockgesang« von Botho Strauß Anfang der 1990er Jahre war der erste, wahrnehmbare Tabubruch oder besser: die Rückkehr zur deutschen Normalität. Mittlerweile ist es schick, sich mindestens von der vermeintlichen Hegemonie eines angeblichen »Kulturmarximus« abzusetzen (Simon Strauß, Christian Kracht) oder direkt mit den Wölfen zu heulen (Tellkamp, Maron, Safranski). Der kurze Sommer der Anarchie, den so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie Hans-Magnus Enzensberger, Erika Runge oder Rolf Dieter Brinkmann lebten, ist längst Geschichte.

Der Schriftsteller Norbert Nieman sieht eine »Dominanz des Schweigen« der linken Literaten und verweist auf die Weimarer Republik und Joseph Roth: »Sie (die Schweigsamkeit) übertönt das barbarische Geräusch der Reaktion und den gellenden Todesruf ihrer Opfer. Niemals haben die deutschen Dichter so laut gesprochen, wie sie jetzt schweigen«, schrieb Roth am 24. Februar 1924 im »Vorwärts«. Einzig Heinrich Mann sei »seit Jahren der einzige Rufer von Geist im brüllenden Streit der reaktionären Barbaren (des Großkapitals, des Nationalismus, des völkischen Gedankens)«. - Doch reicht als Antwort bereits die bloße Beschreibung von Arbeits- und Lebenswelten, wie im Falle von Annett Gröschners Romanprojekt »Schwere Lasten«? Dort wird das Schicksal der Familie einer Arbeiterin der abgewickelten DDR aufgearbeitet, die als Geschiedene nach der Wende keine Rente mehr bekommt. Für sie, wie für viele andere Ostdeutsche, gehe es laut Gröschner ans »Eingemachte« - wirtschaftlich wie psychisch. Michael Wildenhains Roman »Das Singen der Sirenen« schlägt den Bogen vom Kampf gegen neonazistische Gewalt im Berlin der Post-Wendezeit bis hin zum Widerstand gegen AfD und Pegida. Es sind Beschreibungen von Erfahrungen, ohne dass es eine wirkliche Echokammer gibt. Die Beziehungen zwischen Menschen erhalten den »Charakter der Dinghaftigkeit« (Georg Lukacs) und verdecken somit »jede Spur ihres Grundwesens«. Die Rekonstruktion eines kollektiven Bewusstseins wird in der »verwalteten Welt« (Adorno) zur Sisyphusarbeit.

Anke Stelling knüpft daran an. »Die Stimme verstellen« heißt ihr autobiografischer Rückblick auf ihre Ankunft im Leipziger Literaturinstitut, an dem sie von 1997 bis 2001 studierte. Auch dort herrschten kapitalistisch-patriarchalen Machtstrukturen vor. An sie gestellte Erwartungen werden von ihr bewusst nicht erfüllt. Sie will nicht mitmachen, funktionieren, lernen - sondern begreifen.

Auf der Tagung wurde ebenso die Situation einer Arbeiterschaft analysiert, der das Klassenbewusstsein abhandengekommen ist. An dessen Stelle, so die Beobachtung, treten völkisch-nationalistische Einstellungen, die nicht nur bei den Abgehängten, sondern auch beim aktiven Kern der Arbeiter - vom Funktionär bis hin zur Gewerkschaftsjugend - zu erkennen sind. So haben etwa bei der Landtagswahl 2016 in Sachsen-Anhalt 36 Prozent der jugendlichen Mitglieder der IG Metall die AfD gewählt. Klaus Dörre erklärt dies mit dem Gefühl einer »kollektiven Abwertung« - ökonomisch wie kulturell. Der Arbeiterstatus als solcher stifte »keine positive Klassenidentität« mehr.

Autor Stefan Schmitzer betonte schließlich in seinem Vortrag über die »Freibeuterschriften« Pier Paolo Pasolinis, dass dieser sich bereits Anfang der 1970er Jahre darüber beklagt hätte, dass bei der linken Opposition an die Stelle des Klassenbewusstseins ein bürgerliches Bewusstsein getreten sei. Vor diesem Hintergrund müsse man fragen: »Zu welchen Menschen spricht man als Schriftsteller überhaupt?« Eine Frage, auf die es aktuell wohl keine einheitliche Antwort geben kann - was gewiss auch daran liegt, dass Wesen und Erscheinung der »neuen Klassengesellschaft« höchst unterschiedlich wahrgenommen werden.

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