Zehn ausgeflippte Europäer

Jan Bosse inszenierte Gioachino Rossinis »Il Viaggio a Reims« an der Deutschen Oper

  • Irene Constantin
  • Lesedauer: 4 Min.

Ort der Handlung: eine geschlossene Anstalt für Besserverdienende. Zeit: Mai 1825, kurz vor der feierlichen Krönung Karl X. in Reims zum französischen König. Die Klientel im »Hotel zur Goldenen Lilie«, welches sich als Kur- und Badehotel ausgibt, kommt aus aller Welt, will sagen, aus ganz Europa. Die Anstalt befindet sich irgendwo in den Vogesen, die Chefin Madame Cortese stammt indes aus Norditalien, genauer: Südtirol. Die Handlung der Oper besteht darin, dass sich die ganze Gesellschaft einbildet, auf der Durchreise nach Reims zu sein. Dort will man die Krönungsfeierlichkeiten für Karl X., den neuen französischen König, erleben.

Einen fast dreistündigen Einakter, dessen Inhalt nichts als Warten ist, zu einer Komödie zu adeln, schafft nur ein absoluter Spezialist. Gioachino Rossini (1792 - 1868) ist der Meister des rasanten musikalischen Stillstands, bei dem selbst das Donnern der Kanonen als gewaltige Glitzerwolke verpufft. Niemals Drama, dafür einfach Lust an der Freude, jedenfalls in seinen italienischen Buffo-Opern. In diesem Genre hatte er dutzendfach Erfahrungen gesammelt, ehe er für das Pariser Théâtre-Italien die festliche Krönungsoper komponierte. Sie war sozusagen ein opus summum, zehn Hauptpartien, gesungen von zehn damals weltberühmten Opernstars. Rossini wusste, dass er so eine Besetzung nie wieder zusammenkriegt und ließ das Werk vorsichtshalber nach vier gefeierten Aufführungen in der Versenkung verschwinden. 1977 hat ein Rossini-Forscher die Partitur entdeckt und Claudio Abbado hat die »Reise nach Reims« bald darauf mehrfach auf die Bühne gebracht. Ein Stardirigent wie Abbado findet natürlich entsprechende Starbesetzungen.

Die Deutsche Oper ging einen fundamental anderen Weg in der Besetzungsfrage. Zehn ausgeflippte Irre aus aller Herren Länder - da muss man nicht lange suchen, das hat man einfach an einem Opernhaus. Die Deutsche Oper besetzte das Stück aus dem eigenen Ensemble und was an allerletztem gesanglichen Raffinement vielleicht nicht zu hören war, machte die Jugendlichkeit und Spiellust der Protagonisten allemal wett.

Man durfte allerdings auch nicht zimperlich sein. Allein die Kostüme von Kathrin Plath zu tragen, kostet den gediegenen Mitteleuropäer Überwindung. Nationalfarben glänzende Boxershorts, Sockenhalter, tigermusterbedruckte Nachtwäsche, ein Morgenmantel mit dem riesigen Gesicht der Queen hintendrauf, das muss man mögen. Über die polnischen, römischen, russischen, deutschen, französischen, spanischen, italienischen, englischen Gestalten lachten die Zuschauer fortwährend, und ein Opernpublikum dahin zu bringen, muss man können. Regisseur Jan Bosse ist es gelungen. Man konnte gar nicht so schnell gucken, wie sich ein Witz an den anderen reihte, den dritten überlagerte; musikalisch auf den Punkt oder gegen den Strich. Besonders erfreulich, Jan Bosse verzichtete auf jedes naheliegende Witzchen über den Zustand Europas. Natürlich spielten die schief verschobenen Krankenhausbettenmatratzen als Sprungpolster und die lecker gefüllten Tropf-Beutel als grasgrüne lyrische Bewusstseinerweiterer im hermetischen Spiegelsaal von Bühnenbildner Stéphane Laimé auch mit.

Rossini hat in seiner letzten Opera buffa alle von ihm perfektionierten Stimmtypen eingesetzt, vor allem aber führte er alle Ensemble-Raffinessen seines Buffa-Universums zum Höhepunkt. Es gibt ein 14-stimmiges Ensemble a capella, Arien von lyrischer und plappernder Art, es erklingen konzertante Arien mit Harfe oder Flöte (als Spieldosenfigur beziehungsweise als Krankenschwester auf der Bühne), man erlebt die hochdramatische Soloszene mit Ohnmacht der Protagonistin über einen verlorenen Kleiderkoffer, es erklingen Zank- und Versöhnungsduette und ein elfteiliges Finale, in dem Canzonen, eine Tyrolienne und zwei Nationalhymnen mit Chor vorkommen. Kein einziges Stück, das in der Aufführung nicht gelungen wäre. Dazu bedarf es im Orchestergraben natürlich einer höchst versierten Hand. Giacomo Sagripanti, offenbar auf dem Sprung zur ganz großen Karriere, hat ein Ohr und eine Ader für das belcantistische 19. Jahrhundert. Abgesehen davon, dass es selbst in verziertesten oder verwickeltsten Passagen keinerlei wahrnehmbare Wackler gab, stimmten auch die Tempi in jeder Nummer. Es ging luftig zu, aber nicht beiläufig, virtuos mit Raum für das Lyrische und immer wurde auf die Pointe hin musiziert. Also Opernbegleitung auch, im besten Sinne. Das Publikum hätte noch länger gejubelt, wären die Sänger nicht von der Bühne gegangen, vermutlich zur Premierenfeier in Reims.

Nächste Aufführungen: 22., 24. und 30. Juni, 5. Juli.

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