Zu kurz gesprungen

Die Mindestlohnkommission kritisiert Defizite bei der Umsetzung der Lohnuntergrenze, andere halten auch ihren Vorschlag für ein Problem

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 5 Min.

Der gesetzliche Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro brutto pro Stunde wird in zwei Stufen erhöht. Das teilte die von der Bundesregierung eingesetzte Mindestlohnkommission am Dienstag in Berlin mit. Ab dem 1. Januar 2019 beträgt die Mindestvergütung 9,19 Euro, ein Jahr später steigt sie auf 9,35 Euro. Die Bundesregierung muss den Vorschlag noch umsetzen. Der Bericht der Kommission wurde Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) überreicht.

Der Kommissionsvorsitzende Jan Zilius verwies auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Bestimmung der Lohnuntergrenze. Maßgebliche Indikatoren seien die Tariflohnsteigerungen der beiden vergangenen Jahre, die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und die Wettbewerbsbedingungen der Unternehmen. Die erstmals vorgenommene zweistufige Erhöhung begründete Zilius mit dem Trend, dass auch Tarifabschlüsse zunehmend längere Laufzeiten mit mehrstufigen Lohnzuwächsen beinhalten. Außerdem biete dieses Modell den Unternehmen mehr »Planungssicherheit« und den Gewerkschaften Eckpunkte für ihre künftige Tarifpolitik.

Zilius räumte ein, dass sich die Lohnuntergrenze zwar als »Mindestschutz« für bestimmte Branchen und Regionen bewährt habe, es aber nach wie vor große Defizite bei der Umsetzung gebe. Daher sei eine bessere Ausstattung der für die Kontrolle zuständigen Zollbehörde und die »Fokussierung auf bestimmte Problembranchen« dringend erforderlich.

Neben dem früheren RWE-Arbeitsdirektor Zilius gehören der Kommission jeweils drei stimmberechtigte Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter an sowie zwei beratende Wissenschaftler. Beide Seiten begrüßten die Ankündigung von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), 1400 zusätzliche Mitarbeiter bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit einzustellen.

Einen gesetzlichen Mindestlohn gibt es in Deutschland seit 2015. Bei seiner Einführung betrug er 8,50 Euro pro Stunde. Das niedrige Niveau was der starken Lobby der Mindestlohngegner zu verdanken war, die vor dramatischen Beschäftigungsverlusten und Wachstumsrückgang warnten. Anfang 2017 war der Mindestlohn zum ersten Mal erhöht worden. Laut Kommission hat die gesetzliche Lohnuntergrenze bisher keine negativen Effekte auf die Beschäftigungsentwicklung.

Zufrieden mit dem einstimmig gefassten Beschluss der Kommission zeigte sich denn auch Steffen Kampeter, der dem Gremium als Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) angehört. Zwar bedeute die vorgeschlagene Erhöhung für viele Betriebe »eine große Herausforderung«, doch sowohl die allgemeine Lohnentwicklung als auch die gesamtwirtschaftliche Lage ließen diesen Schritt zu. Der »Lackmustest« für diese Art der Lohnuntergrenze stehe allerdings noch bevor, wenn die Wirtschaft in eine Abschwungphase eintrete. Derzeit habe die Wirtschaft wesentlich schwerwiegendere Pro-bleme. Für Kampeter sind das vor allem die Einschränkungen bei der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverhältnissen und bei der Leiharbeit sowie die restriktiven Arbeitszeitregelungen. Dazu komme jetzt noch das erweiterte Rückkehrrecht von Teilzeit- in Vollzeitbeschäftigung.

Stefan Körzell, der als Mitglied des DGB-Bundesvorstands der Kommission angehört, sprach von einem »Ergebnis, das sich sehen lassen kann«. Forderungen nach einer Erhöhung auf zwölf Euro, wie sie auch von Gewerkschaften vertreten werden, hätten für die Mindestlohnkommission keine Relevanz, da der Gesetzgeber einen relativ engen Rahmen gesetzt habe. Von ihm, so Körzell , werde man solche Zahlen im Zuge der laufenden Beratungen der Kommission »auch nicht gehört haben«. Der Mindestlohn bleibe eine Untergrenze und nur eine hohe Tarifbindung könne eine entsprechende Dynamik bei der allgemeinen Lohnentwicklung auslösen. Körzell forderte von der Bundesregierung, die Möglichkeiten für die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von Flächentarifverträgen auszubauen.

Als »beendet« bezeichnete Körzell die von einigen Unternehmerverbänden angestoßene Debatte um die angeblich »überbordende Bürokratie« bei den Dokumentationspflichten über Lohnzahlungen und geleistete Arbeitsstunden. Gerade im Bereich der geringfügigen Beschäftigung sei dies unerlässlich, um mögliche Verstöße ahnden zu können.

Wie das Statistische Bundesamt mitteilte, entfiel 2017 gut die Hälfte der Beschäftigungsverhältnisse mit Mindestlohnvergütung auf Minijobs, die vor allem im Gast-, Beherbergungs- und Transportgewerbe weit verbreitet sind. Insgesamt profitierten 2017 rund 1,4 Millionen Beschäftigte von der Lohnuntergrenze, darunter auch 200 000 Vollzeitbeschäftigte. Zugleich wird rund 800 000 Beschäftigen der Mindestlohn vorenthalten, obwohl sie darauf Anspruch hätten.

Ohnehin nimmt sich der hiesige gesetzliche Mindestlohn im Vergleich mit anderen entwickelten europäischen Ländern eher bescheiden aus. An der Spitze liegt Luxemburg mit 11,55 Euro, gefolgt von Frankreich, den Niederlanden, Irland und Belgien mit Untergrenzen zwischen 9,88 und 9,47 Euro, wobei die bevorstehenden Erhöhungen für das kommende Jahr noch nicht berücksichtigt sind.

Dass der deutsche Mindestlohn alles andere als »armutsfest« ist, zeigt eine andere Kennziffer. Um eine Rente oberhalb des Niveaus der staatlichen Grundsicherung zu erhalten, müsste ein in Vollzeit beschäftigter Mindestlohnempfänger mehr als 60 Jahre lang arbeiten. »Trotz der geplanten Erhöhung bleibt der Mindestlohn ein Mangellohn«, erklärte dazu Susanne Ferschl, Fraktionsvize der LINKEN im Bundestag. Der Mindestlohn sei »von Anfang an zu niedrig angesetzt gewesen, und die Regeln für die Anhebung sorgen dafür, dass er es auch bleibt.« Erwerbs- und Altersarmut würden damit zementiert. Ihre Partei fordert, den gesetzlichen Mindestlohn auf mindestens zwölf Euro zu erhöhen und sämtliche Ausnahmeregelungen abzuschaffen, wie sie beispielsweise für Langzeiterwerbslose gelten.

Auch der AWO-Sozialverband sprach sich für eine deutliche Anhebung aus. In diesem Jahr müsste der Mindestlohn demnach 12,19 Euro pro Stunde betragen, damit Vollzeitbeschäftigte nach 45 Beitragsjahren eine Rente in Höhe des Sozialhilfeniveaus erhalten. Der Paritätische forderte 12,63 Euro. In seiner jetzigen Höhe schütze der Mindestlohn nicht vor Armut.

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