«Da war mal Leben drinne»

Die Autonomen-Zeitschrift «Interim» feierte kürzlich 30 Jahre Geburtstag - und zeigte Selbstzweifel am Stand der Bewegung

  • Markus Mohr
  • Lesedauer: 4 Min.

Während die neueste «Interim»-Ausgabe derzeit in den Buchläden und Hausprojekten des Vertrauens aufgestöbert werden kann, lohnt ein Blick in die zurückliegende Ausgabe Nr. 795. In dieser feierte nämlich die pünktlich zur ersten angemeldeten revolutionären 1.-Mai-Demonstration in West-Berlin 1988 gestartete Autonomen-Gazette ihren 30. Geburtstag.

Unter der Überschrift: «30 Jahre Lach- und Krachgeschichten» ziert das Titelbild die bekannte und bei allen Kindern beliebte WDR-Maus, die den Leserinnen eine Geburtstagstorte mit Kerzen überbringt. Liest man diese Gestaltung jedoch sowohl historisch wie kritisch, so zeigt das aktuelle Titelbild, das sich in diesem Flügel der Autonomen seit einer Generation so gut wie nichts verändert zu haben scheint: Kleinkinder- und Comicfantasien dienen noch immer - auch älter werdenden Menschen - dazu, sich dem Normalitätsdispositiv, das mit dem Erwachsenensein assoziiert wird, zu verweigern.

Kinder - die lustigen kleinen Mäuse - arbeiten nicht, sie spielen; sie sind nie ganz berechenbar. Wenn man sie erwischt, etwas kaputt geschlagen zu haben, kann man sie eigentlich nicht zur strafrechtlichen Verantwortung ziehen. Die Kinderzeit, vorgestellt als ein attraktiver temporärer Freiraum von gesellschaftlichen Strukturen wie Zwängen.

Im Editorial macht sich die Redaktion dafür stark, dass auch in Zukunft angesichts des immensen Ausmaßes der digitalen Überwachung analog kommuniziert werden soll. Vorsicht wird hier den potenziellen Textlieferanten unmissverständlich angeraten: «Wenn ihr was für uns habt: Spurenfrei eintüten und entweder mit der Post an die Adresse unten oder gut tarnen und selber da einwerfen.»

Unterstützt wird die Redaktion in dieser Haltung durch einen Diskussionsbeitrag im Heft, in dem auch angesichts des Schicksals der abgeschalteten Onlineplattform «Indymedia linksunten» gemahnt wird, «auf die nächsten Schläge gegen die digitalen Medien» vorbereitet zu sein. Vor allem seien Medien betroffen, die es wagen würden, antagonistische und militante Positionen und Praxen zu dokumentieren. Auch das zeige, so die anonymen Verfasser, dass die analoge Form der Kommunikation auf keinen Fall im digitalen Zeitalter überholt sei. Kurz: Man brauche «eine freie Zeitung, in der wir schreiben können, was wir wollen».

Ein ohne Autorennennung geschriebener Beitrag unter der Überschrift «Liebe Zwischenlösung» erinnert derweil an die Anfänge der «Interim». So habe es mal Zeiten gegeben, in der sich in der Zeitung viele Neugierige ausgetauscht hätten. «Da war mal Leben drinne», so das Fazit. Damals habe es sich aufeinander beziehende Diskussionsbeiträge gegeben, die Gazette sei von «Erwiderungen polemischer, inhaltlicher, solidarischer, kritischer oder vernichtender Art» voll gewesen.

Um diese Rolle auch in Zukunft erfüllen zu können, scheint es den Verfasserinnen angeraten zu sein, die als «Tante» bezeichnete «Interim» «zu (re-)politisieren, breiter zu verankern und inhaltlich stärker zu gestalten». Mit Querdenken und querschreiben könne sie wieder einen Gebrauchswert erringen, «der den schlimmen Zeiten angemessen» sei.

Darum bemüht sich dann im Heft tatsächlich ein ausführlicher Beitrag zur «Autonomiedebatte», in dem den Autonomen zwar zugute gehalten wird, vor geraumer Zeit als eine Art «Korrekturbewegung» der revolutionär-marxistischen Bewegung fungiert zu haben. Gleichwohl seien doch die grundsätzlichen Mängel in den Konzepten der autonomen Bewegung ganz offenkundig, der Bruch mit ihnen «längst überfällig», so die Verfasser. Es sei nun die Zeit gekommen, «Organisationsfeindlichkeit, inhaltliche Beliebigkeit und die Vorstellung von außergesellschaftlicher Autonomie über Bord zu werfen.

Gleichzeitig freut sich die Redaktion provokativ darüber, dass sich die Schadenssumme eines Ende März durch die »Vulkangruppe Netzherrschaft zerreißen« verursachten Anschlages auf einen Kabelbaum in Berlin auf 2,5 Millionen Euro belaufen haben soll. In der Ausgabe wurde das Bekennerschreiben mit dem Wunsch verknüpft, das man sich mehr von so etwas wünsche - ergänzt um die Aussage: »Und auch mehr Widerstand, Krawall und Torte!«

Die Darstellung lässt einen mitunter ratlos zurück. In der Sendung mit der Maus sollen die Lachgeschichten der Unterhaltung und dem Nachdenken dienen und die Sachgeschichten den Kindern Wissen vermitteln. Welches Wissen vermag aber nur diese Krachgeschichte zu vermitteln? Die besagte Vulkangruppe macht in ihrem Bekennerschreiben unter Anstrengung all ihrer argumentativen Fähigkeiten lange Ausführungen zur »Arroganz der Macht«, zum deutschen Faschismus, zur Vulgarität der Reichen. Die tiefergehende Analyse fehlt in der Zeitung mit der sprachlosen Maus.

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