Lebenslinie einer jüdischen Familie

Das Haus am Kleistpark zeigt eine berührende Ausstellung über eine Generation auf der Suche nach Heimat

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Anfang standen Fotoalben, klein und schon leicht vergilbt, wie Andreas Valentin sie im Nachlass des Vaters gefunden hat, ehe er 2014 zu einem einjährigen Forschungsaufenthalt an der Freien Universität nach Berlin reiste. Vater Gerhard hatte sie nach seinem Berlin-Besuch 1975 angelegt und, wie viele weitere Fotodokumente aus den Jahrzehnten zuvor, fein beschriftet und archiviert. Das ließ beim Sohn die Idee für eine Ausstellung zur Familiengeschichte keimen. Fünf Generationen reicht sie zurück und ist auf glanzvolle, zwischenzeitlich bittere, dann aber wieder versöhnliche Weise mit Berlin und Rio verbunden. »Berlin - Rio. Spuren und Erinnerungen« heißt sie und zeigt Geschichte an einem selbst geschichtsträchtigen Ort. Denn das Haus am Kleistpark, 1880 als Königlich Botanisches Museum im gründerzeitlichen Stil auf dem Gelände eines kurfürstlichen Küchen- und Apothekergartens errichtet, durchweht noch der Geist einer vergangenen Epoche. Vergangen ist auch, was die Familie des Kurators erlebte, vergessen nicht.

Als ihr Urahn gilt Kommerzienrat Valentin Manheimer, der 1841 an der Oberwallstraße einen der ersten Berliner Betriebe für Damenkonfektion gründete, weltweit agierte, zuletzt über 8000 Angestellte beschäftigte. Elegante Damen flanieren auf einem Foto durch sein Modehaus, elegant auch die Fassade der Villa in der Bellevuestraße auf einer Kaffeetasse der Königlichen Porzellanmanufaktur. Als Jude war Valentin gesellschaftlich in der Oberschicht angekommen; ein großformatiges Gemälde vom Lieblingsmaler des Königs zeigt ihn zum 70. Geburtstag im Kreis der Familie; nach dem Tod 1898 ehrten ihn Nachrufe. Mit der Heirat seiner Tochter Helene und des Spediteurs Heinrich Valentin ging die Fortune in die nächste Generation über. Heinrichs Vater, der jüdische Bankier Martin Falk, hatte den Familiennamen Valentin angenommen, um rechtlich den deutschen Staatsbürgern gleichgestellt zu sein. Mit Fleiß, Sparsamkeit, Integrität erwarben sich die Valentins eine geachtete Position.

Das sollte sich mit einigen ihrer zehn Kinder noch steigern. Besonders Bruno machte nach dem Medizinstudium an der heutigen Humboldt-Universität und in Würzburg Karriere. In Berlin begann an der Holzmarktstraße seine ärztliche Laufbahn. Als Sanitätsoffizier ging er freiwillig an die Front des Ersten Weltkriegs, wurde von einem Granatsplitter getroffen, widmete sich, nicht zuletzt der vielen Kriegsverwundeten wegen, fortan orthopädischen Themen und wirkte in Frankfurt am Main, Heidelberg und Hannover, wo er, inzwischen Professor, Direktor eines Stifts wurde und sich zu einer medizinischen Koryphäe entwickelte. Bis 1939 veröffentlichte er 78 wissenschaftliche Texte und betreute studentische Arbeiten. Heute erinnern in Hannover eine Straße und ein Institut an ihn. Als Konvertit zum lutherischen Glauben hatte er auch die ohnehin schwache Bindung an das Judentum beendet.

Sohn Gerhard setzt diese Tradition fort, möchte ebenfalls Medizin studieren, reist, notiert akribisch seine Erlebnisse. Doch in der Nazi-Diktatur wird ihm ein Studium verwehrt, was ihn im Wunsch bestärkt, das Land zu verlassen. Als Agent einer Hamburger Schifffahrtslinie knüpft er Kontakte mit Südamerika. 1936 besucht er Berlin zu den Olympischen Spielen, knipst emsig die Stadt - und leitet in Hamburg die komplizierte Übersiedelung nach Brasilien ein. Schlimm trifft es Vater Bruno. Ihm, dem »Landeskrüppelarzt der Provinz Hannover«, wird die Lehrbefugnis entzogen, weshalb er in einer Privatpraxis ordinieren muss; die Forschungsergebnisse werden nicht mehr publiziert. Als er für Dezember 1938 eine Vorladung der Geheimen Staatspolizei erhält, flieht er tags zuvor mit der Ehefrau über London per Schiffspassage nach Brasilien. Das Ausreisevisum hatte er sich mit umgerechnet rund 700 000 Euro erkauft, deponiert auf einem Sperrkonto.

In Rio de Janeiro war Sohn Gerhard inzwischen bei der Firma Pelikan untergekommen, die Schreibutensilien herstellte, trat später einem Import-Export-Unternehmen bei. Ungleich schwerer hatte es Bruno: Weil sein deutsches Medizinexamen in Brasilien nicht anerkannt wurde, durfte er nicht praktizieren, schlug sich mit Artikeln durch, schrieb mit seiner »Geschichte der Orthopädie« ein in mehrere Sprachen übersetztes Referenzwerk. Erst 1951 kam er zu Vortragsreisen nach Deutschland, erfuhr hier späte Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistung und kehrte 1967 endgültig ins noch zerstörte Hannover zurück. Als er 1969 starb, wurde der Träger des Bundesverdienstkreuzes von 1965 als Vorbild auch an vornehmer Gesinnung betrauert. Sohn Gerhard indes blieb in Rio, verheiratet mit der Tänzerin Judy, Tochter eines hochrangigen Münchner Juristen und Schulkollegen von Albert Einstein. Sohn Andreas, Kurator, Filmemacher und Professor für Fotografie und Kunst in Rio, verwaltet zusammen mit dem Bruder das Familienerbe. Aus der Fotosammlung des Vaters, eigenen Aufnahmen an denselben Plätzen in Berlin und Rio sowie zahlreichen Dokumenten speist sich mit 190 Exponaten eine Schau, die exemplarisch für das Schicksal vieler Juden steht - in diesem Fall glücklicherweise mit gutem Ausgang.

Bis 29. Juli, Haus am Kleistpark, Grunewaldstr. 6-7, Schöneberg

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