Kletterer der Talsohle

Mennescio? Nowak!

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Kann man Freiheit dort gewinnen, wo man sie verlor? Und ist Selbsterkenntnis nicht nur das Notprogramm, wenn einem nichts Besseres einfällt? Martin Menne, abgewickelter Ingenieur im Sächsischen, durchlebt mit wachen, peinigenden Sinnen die Sterbestunden der DDR. Friedliche Revolution? »Auf einmal hielt sich jeder gewöhnliche Arsch für außergewöhnlich ... Ich auch ein bisschen.« Menne schreibt Erinnerungen; zwischen Ducken und Dissidenz, zwischen Partei und Privatkreis. Eine Geschichte der DDR - die Kopfgeburt Sozialismus als Topferfahrung: Der Deckel von oben hilft nicht gegen den Dampf von unten.

Da inmitten Menne: begeisterter Gipfelstürmer im Sächsischen, nun mit Frau und per Trabant auf dem Weg zu den Schweizer Höhen, und jeder ächzend genommene Kilometer bekräftigt die Grundfrage des Kletterparks Leben: Man kann Berge versetzen - aber auch Talsohlen? Ob die nun Ideologie oder Ehe heißen, Westduft oder Ostmief. Der Kletterpfad als Gleichnis: Es geht schlecht voran - es geht bergauf.

»Jodl der Kletterer« - geschrieben hat diesen witzig-wahrhaftigen Roman Jürgen Nowak, er nennt sich als Autor N. O. Mennescio. War einst nd-Redakteur, wechselte rechtzeitig von der unfreiwilligen Komik dieses Schicksals zum bewussten, offenen Humor, zum »Eulenspiegel«, und er griff wohl wegen nicht verdrängbarer Intelligenz zum Pseudonym: Scheu bleibt wohl das Beste, was ein systemeifriger DDR-Schreiber in die neue freie Zeit zu retten vermochte.

Indes: Das Buch ist so mit feiner Kraft, geschmeidiger Souveränität und pfiffiger Tiefe geschrieben, dass die Maskierung des Urhebers gar ein wenig schmerzt. Unterm Scheffel ruft das Licht nach Luft. Mennescio, der Ich-Erzähler, eingezwängt in politische und körperliche Wechseljahre, erinnert sich seines Lebens, und er tut es mit einer Melancholie, die zwinkert, mit einer Lebenslust, die trauert, mit einem Zorn, der aufheitert. Biografie: ein Balanceakt - das Seil wird dünner und dünner, aber dafür bekommt man Übung.

Der Roman enthält grau unterlegte Passagen (eigentlich gestrichene Stellen), und er ruft seine Leser zur Einsendung von Schlussvarianten auf, deren originellste eine mögliche Nachauflage adeln soll. Diese Brechungsmuster sind Begleitmomente eines großartigen Tricks: In Mennes Memoiren eingebettet sind ausführliche, fragend kluge Werkstattgespräche des Autors mit Hannibal Lector vom Verlagsressort »Betreutes Schreiben«. Das ist Selbstironie vom Trefflichsten, ein geschliffen spannendes Zweipersonenstück. Dialoge über Wirklichkeit und Wiederspiegelung, Tugend und Täuschung des Erinnerns, über Wahn und Wehe, einen Kern des eigenen Lebens zu fassen. Einmal heißt es, in Ableitung der berühmten Pathosformel Nikolai Ostrowskis: Das Schlimmste, was der Mensch besitze, sei das Denken: »Er denkt immer so, dass er noch sterbend sagen wird: Hab ich mir doch gedacht.« Ein schönes Lehrbuch: Identität erweist sich im Konflikt.

N. O. Mennescio: Jodl der Kletterer. Roman. Enno-Verlag, 336 S., geb., 20 €.

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