Liebenswerte Berliner Kieze

  • Ernst Reuß
  • Lesedauer: 2 Min.

Kreuzberg hatte Kultstatus. Hat es eigentlich immer noch, auch wenn es sich stark veränderte. Friedrichshain war in den 1920er und Anfang der 1930er Jahren eine Hochburg der Sozialdemokraten und Kommunisten und ein Hauptschauplatz der Kämpfe gegen die nach der Macht in Deutschland strebenden Nazis, leider aber auch der Arbeiterparteien untereinander. Im Zuge einer Verwaltungsreform fusionierten die beiden traditionsreichen Stadtteile im Jahre 2001. Mit Prenzlauer Berg und Gesundbrunnen gehört Friedrichshain-Kreuzberg zu den am dichtesten besiedelten Ortsteilen Berlin.

Der am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam beschäftigte Hanno Hochmuth promovierte an der FU zur Geschichte der beiden Stadtbezirke. Jetzt ist seine »Kiezgeschichte« auf dem Buchmarkt erschienen. Fachkundig und faktenreich beschreibt er die Entwicklung der beiden ehemaligen Arbeiterbezirke, dem früheren Armenhaus Berlins, zum Tummelplatz der »Szene«, kreativer Künstler, Intellektueller und angehender Akademiker. Besonders interessant sind die Passagen über die Zeit der deutschen Teilung, die auch Berlin in zwei Hälften zerschnitt. Hochmuth untersucht die Wohnsituation hier wie da, die Wirkungsmöglichkeiten der Kirchen und die unterschiedlichsten Freizeitvergnügungen in den Kiezen Ost und West. Er erzählt von der »Kommune 1 Ost«, vom »Stralauer Fischzug« und vom ND-Pressefest, das zu Zeiten des »Zentralorgans« im Volkspark Friedrichshain stattfand. Der Autor erinnert ebenso an die Friedrichshainer »Bluesmessen« des dissidentischen Pfarrers Rainer Eppelmann, die genauso argwöhnisch von der Staatsmacht beobachtet wurden, wie vom Senat manche alternativen Aktivitäten im Westteil der Stadt. Das galt besonders für Kreuzberg, beispielsweise für das »Chamissoplatzfest«. Hochmuth stellt legendäre Kneipen vor, so den »Leierkasten«, der vom Original Kurt Mühlenhaupt betrieben wurde, oder die »Kleine Weltlaterne« und das Kneipenkollektiv im Mehringhof. Man erfährt nebenbei, dass der Song »Kreuzberger Nächte sind lang« von den Gebrüdern Blattschuss ursprünglich nicht als bierseliger Schunkelsong, sondern als Parodie auf derartiges verfasst worden ist.

Mittlerweile drohen Kreuzberg wie auch Friedrichshain durch die Gentrifizierung ihren ursprünglichen Charme zu verlieren. Die attraktivsten Wohnanlagen und Geschäftsräume, samt den dort lebenden bzw. arbeitenden Menschen, verkommen zur reinen Spekulationsmasse. Vielleicht kann das vorliegende Buch von Hochmuth die verantwortlichen, entscheidungsmächtigen Kommunalpolitiker zum Umdenken und zur Umkehr bewegen.

Hanno Hochmuth: Kiezgeschichte. Friedrichshain und Kreuzberg im geteilten Berlin. Wallstein-Verlag, 392 S., geb., 29,90 €.

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