Sartre und das Unwohlsein

Notizen aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Jean-Paul Sartre hatte 1951 gerade sein tausendseitiges Buch »Saint Genet, Komödiant und Märtyrer« beendet. Ihm war alles andere als wohl gewesen beim Schreiben. Der »heilige« Jean Genet: ein Gesetzloser, ein Verbrecher. Ein genialer Autor, aber ein verwilderter Mensch, auf den man besser nicht rechnete. Genet saß eine lebenslange Haftstrafe ab, als Sartre (zusammen mit Cocteau) seine Freilassung betrieb - und tatsächlich wurde er von Staatspräsident Auriol begnadigt. So mächtig waren sie einmal, die machtlosen Intellektuellen - oder anders gesagt: so souverän manche Politiker!

Sartre, hellsichtig in Abgründe blickend, Genet nie verurteilend und doch auch ein Moralist, beschloss nach dieser unheimlichen Begegnung, lange Ferien zu machen und den Schatten Genet abzuschütteln - er reiste erst einmal nach Venedig. Das Schockierende für den auf Zerstreuung und Amüsement aller Art erpichten Autor: Venedig war wie Jean Genet. Was für ein Schlag! Schon Anfang 1952 aber musste Sartre Venedig wieder verlassen, denn in Frankreich passierten gerade schlimme Dinge: Der kommunistische Abgeordnete Jacques Duclos wurde der Verschwörung beschuldigt und kam ins Gefängnis. Die Kommunisten seien Verräter Frankreichs, so hieß es in rechten Kreisen. Sartre fuhr eiligst zurück nach Paris. Sein begonnenes Italien-Buch »Königin Albermale oder Der letzte Tourist« blieb für immer Fragment. Aber was für eines! In ihm fließen der großartig schmutzige Atem der Kanäle mit dem des großartig schmutzigen Jean Genet ineinander. Kein Venedig-Buch ist mir näher als dieses.

Natürlich geht es darin um das Wasser, das ekelhafte, das herrliche, das trübe und das schillernde. Hässlich-schöne Sätze wie diesen versteht man nur mit der Genet-Vorgeschichte: »Das Wasser in Venedig ist kein Wasser, es ist hundert Dinge auf einmal, es ist ein Tier mit Pusteln, eine giftige Pflanze, eine Glasfläche über einem ekelhaften Schwarz, es ist Eiter, es ist die zwischen die Ordnung eingeengte reine Unordnung, es ist das sanfte Gleiten des Nichts zwischen den Kippen des Seins.« Man brauche nur dieses Wasser anzuschauen, um Venedig altern zu sehen. Aber auch der Philosoph, oder gerade er, ist ein reizbares Wesen. Darum kommen nun die Tiere ins Spiel, vor allem die, die aus dem Dunst der Lagune aufsteigen: Mücken! Diese, so Sartre, seien »die natürlichen Tiere von Venedig. Hunde und Katzen sind importiert.« Nun ja, die Tigermücke, die es zu Sartres Zeit hier noch nicht gab, ist auch importiert. Die Flamingos, die sich neuerdings in einigen Ecken der Lagune sammeln, ebenso.

Aber was heißt importiert? Ein Geschäft lässt sich mit Venedigs Tierwelt nicht machen. Doch in den Ökosystemen ist Bewegung. Die Hausratte (rattus rattus) ist von der aus Asien kommenden Wanderratte (rattus norvegicus) lange schon erfolgreich verdrängt worden. Damit endeten die großen Pestepidemien. Gerade in Venedig, wo der Pesthauch einst fast die halbe Bevölkerung ausrottete, sollte man das zu schätzen wissen. Aber beim alljährlichen Redentore-Fest, das man seit dem Ende des letzten großen Pestausbruchs 1576 jedes dritte Wochenende im Juli hier feiert, ist von der eigentlichen Erlöserin nicht die Rede. Darum hier nochmal: danke Wanderratte!

In der Tierwelt geht es übrigens viel aufregender zu als der Tourist im allgemeinen glaubt. Nicht nur, dass hier Fledermäuse und Skorpione auf der Lauer liegen, auch Falken und Steinkäuze gehen auf Jagd. Ebenso durchwandern Füchse die vorgelagerten Inseln und fressen die Gelege der Möwen. Sogar die regelmäßig Spaziergänge durchs nächtliche Venedig unternehmenden Wanderratten (nach der Devise: die Kanalisation ist überall!) müssen vor Mardern auf der Hut sein. Leider hat sich deren Zahl, im Unterschied zu der der Ratten, deutlich verringert: die Marder fressen den Ratten die für sie bestimmten Giftköder weg. So ist das, wenn sich der Mensch regulierend in Tierangelegenheiten einmischt.

Aber manchmal geht es wohl nicht anders. Sogar Franz von Assisi und ausgemachte Buddhisten erlauben es ausdrücklich, Mücken totzuschlagen. Als hätten diese kein Recht zu leben. Aber wer allabendlich in eine Wolke ausgehungerter Mücken gerät, die einem ans Blut wollen, lässt die Moral schon mal beiseite. Das ist, wie Sartre wohl wusste, der Jean Genet in uns allen.

Ich persönlich bevorzuge ja simple Mückengitter vor den Fenstern. Die Mücke bleibt draußen und das Gewissen rein. Es sei denn, die Mücken sind schon drinnen, dann wird es heikel. Die »Terrazze di Sofia«, die sich gern den Anschein gibt, eine luxuriöse Wohnung zu sein, leistet sich keine solchen Mückengitter. »Die gehen so schnell kaputt«, sagt Jürgen von der Wohnungsagentur. Ich berichte ihm von den schlechten Erfahrungen, die ich mit Sprays wie »Ex« oder »Autan« gemacht habe. Man riecht wie mit Gift übergossen, aber kaum ist die Wirkung etwas abgeklungen, überwinden sich sämtliche Mückenschwärme und fallen einen mit besonderer Wut an. Und das mitten in der Nacht. Ich sage ihm auch, dass ich dieses Jahr auf »Vape« setze, kleine blaue Plättchen, die man mittels eines Steckers in der Steckdose erhitzt und die dann für einen dauerhaft mückenfreien Schlaf sorgen.

Jürgen verdreht die Augen und rät mir, doch einmal den Beipackzettel zu lesen. Darauf sind tote Fische und tote Bienen zu sehen. Tote Mücken allerdings nicht. Zu lesen steht, dass man nicht essen, trinken und rauchen soll, wenn man »Vape« in Betrieb nimmt. Wieso, herrscht Explosionsgefahr? Aber da steht noch etwas, nämlich, dass man sich selbst gar nicht im Raum befinden soll, während »Vape« sein Vernichtungswerk verrichtet. Ziemlich unsinnig, ein mückenfreies Schlafzimmer, das ich nicht betreten darf?

Kein Problem, sagt Jürgen, wir haben hier im Büro ein Verdampfungsgerät aus dem Bio-Laden, das ist völlig ungefährlich, das Mittel wird aus einem Bestandteil der Chrysantheme gewonnen. Und mir als langjährig gutem Kunden überlässt man es natürlich leihweise. Sehr nett, aber Mückengitter wären mit trotzdem lieber.

Bevor ich das namenlos Bio-Präparat, einen Verdampfer, in den man eine kleine Flasche einsetzt, in Betrieb nehme, will ich aber doch den Beipackzettel lesen. Es stammt aus Japan und zeigt beruhigender Weise keine durchgestrichenen Fische und Bienen zur Warnung. Ansonsten verstehe ich nichts von den japanischen Instruktionen. Nun also liege ich nachts in einem seltsam riechenden Nebel. Ist das Chrysantheme? Irgendwie komme ich mir morgens, wenn die Müllabfuhr Sturm klingelt, doch etwas benommen vor. Und das von Nacht zu Nacht mehr.

Also suche ich nach dem Wirkstoff und der steckt überraschender Weise gleichermaßen in »Vape« wie im namenlosen japanischem Bio-Verdampfer. Prallethrin! Im Internet finde es diesen als ein synthetisch hergestelltes Pyrethroid bezeichnet, das ursprünglich tatsächlich aus Chrysanthemen gewonnen wurde. Ein verbreitetes Insektizid: Teppiche, die nach Chemie riechen, sind damit behandelt, Mittel gegen Holzwürmer und Kopfläuse enthalten es ebenso. Ein Nervengift, das bei Säugetieren zumeist keine größeren Schäden anrichtet. Na prima, zumeist! Und bei Mücken? Insekten, lese ich, werden oft nicht getötet, sondern nur betäubt, manchmal verlangsamen sich ihre Bewegungen auch nur auf anormale Weise und sie verlieren die Orientierung.

Das klingt für mich wie bei Herricht & Preil zu der Zeit, als ich noch ein Kind war und über den Sketch vom »Mückentötolin« lachen musste. Der Mücke wird schlecht, ganz blau im Gesicht ist sie schon. Oder blicke ich gerade in den Spiegel?

Gunnar Deckers Venedig-Kolumnen der vergangenen Jahre sind in dem Band »Venedig für Skeptiker« (mit Zeichnungen von Dieter Goltzsche) versammelt, Edition Ornament im quartus-Verlag, 168 S., geb., 16,90€

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