Schreiben und Nichtschreiben mit Wolfgang Koeppen

Im Treibhaus: Wolfgang Koeppen und die Krise des modernen Romans

  • Jan Decker
  • Lesedauer: 7 Min.
Warum schaut er so bedrückt drein? Was lastet auf Wolfgang Koeppen?
Warum schaut er so bedrückt drein? Was lastet auf Wolfgang Koeppen?

Ein junger Mann strandet in der Provinz, läuft auf Grund. Greifswald an der Ostsee. Hier wächst Wolfgang Koeppen auf und davon. Die Stadt widert ihn an, ihr feuchter Moder, ihr Engherziges. Der junge Mann hält dagegen: einen Bildungsroman. So nennt man es, wenn ein Zwölfjähriger sich an den Bücherschrank anschleicht und ihn nach lauernden Sekunden verschlingt. Span und Holzsuppe.

Wonach der Junge da greift, passt nicht ins Preußisch-Lutheranische um 1920. Koeppens Bildungsroman geschieht wider das Wissen der Väter und gegen sie, die meinen: »Du vergreifst dich nur, Junge!« Doch ihn himmeln die Franzosen an, Balzac, Flaubert – und der Bücher- wird zum Gegengiftschrank. Fort schreibt sich sein Bildungsroman; wochenlang gräbt er sich mit den Schinken ins Laken ein, das steht vor Schweiß, durchwühlt, springt auf und davon.

1926 verlässt Wolfgang Koeppen als gebildeter junger Mann seine Geburtsstadt und wird nur sporadisch wiederkehren. So die offizielle Version. Und den Bildungsroman nimmt er mit, der verkehrt sich und kehrt 50 Jahre später wieder: Im 1976 erschienenen Romanfragment »Jugend«, das eine späte Abrechnung mit Greifswald ist. Von der Hansestadt lässt Koeppen wenig stehen, Schicht um Schicht trägt er sie ab, und mit ihr seine Herkunft.

»Jugend« sollte das Versprechen einlösen; nach Jahrzehnten des Schweigens legte Wolfgang Koeppen wieder einen Roman vor. Doch ohne die Hartnäckigkeit seines Verlegers Siegfried Unseld wäre auch »Jugend« nicht erschienen, hätte Koeppen auch dieses schmale Bändchen nicht preisgegeben. Denn der Viel- und Schnellschreiber Koeppen (»Tauben im Gras«, 1951, »Das Treibhaus«, 1953, »Der Tod in Rom«, 1954) war auf der Kehrseite ein An-sich-Zweifler vor dem Herrn und launisch mit seinem Werk. Die drei Romane aus den 50er Jahren waren längst kanonisiert und zur Sternstunde deutscher Nachkriegsliteratur erklärt. Man rechnete sich aus, wie viele Meter Holz der Autor in den nächsten Jahrzehnten nachlegen werde, und überschlug sich angesichts der Summe.

Koeppen strickte seinen Bildungsroman im Stillen weiter, der war gelebt und nicht geschrieben. Deshalb – weil keines seiner geistigen Abenteuer den Weg auf den Markt fand (dem Koeppen vielleicht unwillig war sich zu stellen) – sprach man bald von einer Schreibblockade beim großen Hoffnungskind. Dann folgte, 22 Jahre nach dem letzten Roman, eben »Jugend«, und man wunderte sich erneut. Schreiben konnte dieser Koeppen immer noch, und wie. Erneut eine Sternstunde deutscher Nachkriegsliteratur (die Rechnung hält an). Aber der »Jugend« fehlte es an Masse, es waren eben nur 156 großzügig gesetzte Seiten, und der rührende Versuch Unselds, einen Roman herzustellen, wo man wieder keinen hatte. War Wolfgang Koeppen gescheitert – gescheitert am Roman?

Auf der Schacholympiade 1960 in Leipzig verkündet ein 17-Jähriger, er sei der beste Schachspieler der Welt. Man lacht über ihn und verputzt ihn munter. Der junge Mann aus New York, hört man, habe seine Jugend in einem Hotelzimmer verbracht, verkrochen im Schachspiel, einmal am Tag habe Mom geklingelt und Essen vorbeigebracht. Wenn er in Leipzig verliert, sagt er: »Sorry, ich konnte mich nicht konzentrieren« oder: »Sorry, meine Glieder schlafen ein.« 1964 vermöbelt er auf der US-Meisterschaft die versammelten Großmeister des Landes und holt sagenhafte elf Punkte aus elf Spielen. Weitere acht Jahre später wird er in Reykjavík Schachweltmeister.

Danach zieht er sich aus dem öffentlichen Leben zurück, taucht ab. Die Fischer-Angst geht fortan um, Bobby Fischer könne jeden Moment wieder auftauchen und alle vermöbeln. Doch längst ist klar: Der hagere Junge von der Ostküste hat seinen Erfolgsroman 1972 auf Island eigenmächtig geschlossen. »So, Leute, ich gehe dann. Bin Schachweltmeister und gehe jetzt mal. Viel Spaß noch!« Und die Schachwelt fragt pikiert: »Ja, kann er das? Ja, darf er das?«

Fischers Abgang lässt uns eine Krise als Erfolg erscheinen. Die Krise liegt sicherlich nicht im Schachspiel, das wird er nicht verlernt haben. Sie liegt darin, dass er die Spannung nicht halten konnte, die seinen Erfolgsroman schuf. Denn der war, wie bei Koeppen, von Anfang an gegengerichtet (gegen die Väter, das leere Zimmer etc.). Kein Wunder, dass die beiden jungen Männer an der epischen Dimension ihres Romans scheiterten. Ausdauer wozu, wohin – wenn die Reibungsflächen längst verschwunden sind?

Ob Wolfgang Koeppen ebenso bewusst und ursächlich am Mysterium um ihn selbst strickte, ist zweifelhaft. Eher wohl fügte er sich mit den Jahren seiner Rolle als schweigender Riese. Ein zweiter nicht geschriebener Koeppen-Roman begann hier, ein Abenteuerroman um einen schlummernden Helden im Nirgendwo der Großstadt München. Der Literaturmarkt bekam kostenlos trivialsten Stoff geliefert und publizierte ihn begierig. Bis in die Boulevardblätter schaffte es der ungeschriebene Koeppen. »Schon seit zehn Jahren kein Wort mehr von ihm. Wann hören wir wieder von ihm? Und kann er das, ja darf er das?« Immer wieder Interviews und Werkstattgespräche, die um diese Frage kreisten. Von wegen »… ich gehe jetzt mal. Viel Spaß noch!«

Das Abtauchen muss schmerzhaft sein angesichts solcher Rollenzumutung. Und immer noch ungesagt hinter der Maskerade das eigentliche Rätsel: Warum lässt sich die Spannung der Initiation nicht halten? Warum wird aus dem Wogegen nicht ein Wofür? (Ähnlich dem »Wo bleibt das Positive, Herr Kästner?«.) Liegt es eventuell an Koeppens eigener Vita, sein Überleben der NS-Zeit? Trotz seines »freiwilligen,« vorübergehenden Exils in den Niederlanden von 1933 bis 1938 und seinem Abtauchen in München 1944, um der Einberufung zu entgehen, verstand er sich durchaus mit den Nazis zu arrangieren, schrieb Drehbücher für die Ufa und beteiligte sich an der Propaganda gegen die Sowjetunion und England.

Bei aller Gefahr der Parallelführung: Bobby Fischer und Wolfgang Koeppen hatten ihr Erleben so weit ins Fabel- und Romanhafte getrieben, dass nach den Augenblicken des Gelingens nur fluchtartiges Abtauchen blieb. Ein paradoxes, pubertäres Muster; die Inszenierung geht Hand in Hand mit tiefstem Nichtwollen.

Beim Erschrecken vor der epischen Dimension ihrer Bildungsromane kommt ein Verlangen nach Freiheit in den Helden hoch. Die Freiheit richtet sich dahin, das Leben wieder von der Ausgangsleidenschaft zu lösen, und der Schluss der Helden ist paradox: Dann eben kein Schach mehr und keine Bücher. Dabei versagt ihr Sinn für Ökonomie total, denn es ließe sich ja durchaus erträglich weitermurksen. Aber das ist auch die Fischer-Angst: Sich dem wieder auszusetzen – dem leeren Hotelzimmer, dem Laken, Span und Holz –, hieße, sich zu verkaufen. Eine fatale Opposition zu sich selbst tut sich auf. Ist sie typisch romanhaft?

Mittlerweile gilt Wolfgang Koeppen als der gescheiterte Romancier schlechthin. Aber weist seine Angst vor dem Roman nicht über ihn hinaus und auf den modernen Roman schlechthin, auf seine Eigenschaften, auf seine Gefahren? Auch Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« fiebert förmlich vor Anspannung; es ist eine Anspannung des Erzählers, der sich in der nachbürgerlichen Epoche sucht und neue Möglichkeiten findet, sich zu positionieren. Ein zweites kanonisches Werk der Moderne, »Ulysses« von James Joyce, nimmt diese Anspannung in den Leseprozess mit hinein. Es ist mehr als eine Anekdote, dass Koeppen den »Ulysses« 1927 als einer der ersten Leser der deutschen Übersetzung in zehn Tagen verschlang.

Mit dem Fiebern des Erzählers nahm das Fiebern des Lesers zu, alle Sicherheiten einer eindeutigen Lesart brachen ihm weg. Für den Schreibenden heute (der immer auch ein Lesender ist) mag es von Vorteil sein, durch Werke der zweiten Moderne initiiert zu sein, die diese Suchprozesse schon verarbeitet haben und sie teilweise kunstvoll reflektieren. Trotzdem, ein Restfiebern beim Lesen, ein Restfiebern beim Schreiben bleibt.

Koeppens Werk ist eine Fundgrube für den Suchprozess eines modernen Erzählers, denn auf allen Stufen sucht der Autor mit. Durch seine Konstitution, dem Schreiben existenziell verschrieben zu sein, erhält diese Suche eine Dringlichkeit, die nur nach außen hin als Scheitern vor der Form verkauft werden kann. Man stelle sich dem Wagnis, in der Art eines modernen Romans zu denken, zu erleben; das muss kein Zuckerschlecken sein, kein Fontane-Roman, wo sich alles fügt und weist. Im Gegenteil wird alles voller Zerrbilder sein und irrer Spiele, denen nachzugehen jederzeit auch ein Irrweg sein kann.

Schreiben im Treibhaus: Fieberhaft steigt die Temperatur der wahrgenommenen Welt, und die Ordnung, die man ihr gibt, ist bestenfalls fragmentarisch. Fast könnte man ein Glaubensprogramm aus den Eigenschaften des modernen Romans stricken (auch das Schachspiel trägt spätestens seit Fischers Einbruch okkulte Züge). Ob man es tut, ist eine Frage der Ökonomie. Ein Schriftsteller vom Typ Bobby Fischer wird sich aber nicht auf halbe Sachen einlassen. Dafür läuft er massiv Gefahr, die Kunst mit dem Leben zu verwechseln. Und diese Gefahr legt ihm die Religion des modernen Romans, einmal angenommen, nahe.

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