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  • Polizeiserie »Hundertzehn«

Pure Copaganda

Die Doku-Soap »Hundertzehn« inszeniert Authentizität, liefert aber vor allem Polizei-PR – ohne kritische Einordnung oder journalistische Distanz

  • Fabian Kunow
  • Lesedauer: 3 Min.
Freund und Helfer? Die Polizei bei der Arbeit, wie hier am Kottbusser Tor, lässt sich jetzt auch in einer »ungefilterten« Doku-Soap verfolgen.
Freund und Helfer? Die Polizei bei der Arbeit, wie hier am Kottbusser Tor, lässt sich jetzt auch in einer »ungefilterten« Doku-Soap verfolgen.

»Polizeiruf« im Osten, »Tatort« im Westen: Generationen deutscher Fernsehzuschauender sehen der Polizei gerne bei der Arbeit zu. Derrick (Horst Tappert), Schimanski (Götz George), Bruno Ehrlicher (Peter Sodann) oder Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) erfreuten sich großer Zuschauerbeliebtheit, weil sie als authentisch wahrgenommen wurden: echte Charaktere eben, mit Ecken und Kanten. Trotzdem war immer klar, dass diese Kommissare fiktiv sind.

Bei True-Crime-Formaten sieht das schon anders aus. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Unterhaltung, historisch-korrekter Darstellung und spekulierendem Journalismus – aufgezogen an wirklichem Mord und Totschlag bis zu Diebstählen und Überfällen, bei denen bedeutende Beute gemacht wurde. Ob nun »Tatort« oder True Crime – im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) darf die gesellschaftliche Dimension nicht fehlen. Schließlich hat der ÖRR einen Bildungsauftrag.

Aber es geht auch anders: Vor 25 Jahren nahm sich das Privatfernsehen mit »Toto und Harry« (Sat.1) in Form einer Doku-Soap des Alltagsgeschäfts der Streifenpolizei an. Es standen nicht mehr die großen Kriminalfälle im Vordergrund, ob vom Drehbuchautor ersonnen oder von Journalist*innen recherchiert, sondern die Alltagsdelinquenz, die von Ordnungshütern geregelt wird. Hier zählte die Authentizität der Ruhrpott-Originale Toto und Harry – nicht mehr die Faszination des Verbrechens.

An dieses Versprechen der Echtheit knüpft »Funk«, das Online-Angebot des ÖRR für junge Leute, mit der Polizei-Doku-Soap »Hundertzehn« an. In der Selbstbeschreibung heißt es: »Hundertzehn begleitet Polizist:innen in ihrem Arbeitsalltag – nahbar, authentisch und ungefiltert.« Die vermeintliche Realitätsabbildung wurde in Berlin gedreht – bei einer Brennpunkt-Einheit am Kottbusser Tor sowie beim Streifendienst im Wedding. Die gezeigten Staatsdiener sind jung, sym- und empathisch, viele kommen aus Familien mit sichtbarer Migrationsgeschichte.

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So divers und nahbar das daherkommt – sie machen trotzdem das, was Aufgabe der Polizei ist: Das Eigentumsrecht anderer gegenüber Obdachlosen durchsetzen, Angehörigen der indischen Community das Cricketspielen im Park untersagen oder gegen Besitzer illegalisierter Betäubungsmittel vorgehen. Dass eine andere Wohnungspolitik oder ein anderer gesellschaftlicher Umgang mit Drogensucht und dem damit einhergehenden Elend vielleicht dazu führen könnte, dass es keiner »Brennpunkt-Einheiten« bedarf, liegt jenseits des Horizonts dieser authentischen Darstellung.

Mit Journalismus hat all das nichts zu tun, es ist reine Polizei-PR. Es kommen fast ausschließlich die beteiligten Polizist*innen zu Wort; eine Einordnung des Gezeigten findet kaum statt – weder durch »Funk« noch durch Expert*innen oder Kritiker*innen polizeilicher Praxis, die gerade am Kottbusser Tor leicht zu finden wären. Vollends absurd ist die Selbstbeschreibung als »ungefiltert«: Immer wieder bestimmen die Polizist*innen, wann das Filmteam Abstand zu halten oder das Polizeiauto zu verlassen hat.

In seiner journalistischen Praxis erinnert »Hundertzehn« an den während des Irak-Krieges 2003 von den USA eingeführten »eingebetteten Journalismus« – nur ist das Kottbusser Tor kein Kriegsgebiet, auch wenn Innere-Sicherheit-Fanatiker es gern so darstellen.

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