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Zurück zum C64 mit Ralf Hütter

Volksmusik aus Düsseldorf, Germany: Kraftwerk haben sich mal wieder neu erfunden

  • Uwe Schütte
  • Lesedauer: 4 Min.
So toll ist Retro: Eine Grafik wie 1981, als das Album »Computerwelt« von Kraftwerk erschien.
So toll ist Retro: Eine Grafik wie 1981, als das Album »Computerwelt« von Kraftwerk erschien.

Zugegeben: Der Rezensent besuchte die zweite Berliner Station der gegenwärtigen Deutschland-Tour von Kraftwerk mit geringen Erwartungen. Ehrlicher gesagt, eigentlich mit der Absicht, eine Besprechung zu schreiben, in der abgerechnet werden sollte mit der Selbstgefälligkeit, mit der Kraftwerk seit mehr als einem Jahrzehnt das Immergleiche live abliefern. Nämlich eine hölzern festgelegte Show mit stets gleichen Fixpunkten: Zum Auftakt der ungeheuerliche Proto-Techno Track »Nummern«, dann ein Potpourri der größten Hits der Düsseldorfer Elektromusiker, wobei eine epische Version des majestätischen »Trans Europa Express« den Abschluss des ersten Teils bildet. Dann Vorhang zu, Pause und Vorhang auf für die Roboterpuppen, deren Song vom Band erklingt, plus zweiter Konzertteil, der immer mit der Suite von »Boing Boom Tschak«, »Techno Pop« und »Musique Non Stop« endet.

So weit, so schlecht. Trotz des unvergesslichen Eindrucks, den das erste Kraftwerk-Konzert auf jeden Menschen, der nur halbwegs ein Ohr für elektronische Musik hat, unausweichlich hat, angesichts der Ohrwurmqualitäten ihrer Klassiker, wird die ritualhaft durchgezogene Rigidität der Kraftwerk-Sets auch schnell langweilig. Das war Ralf Hütter, dem letzten verbleibenden Gründungsmitglied der 1970 gegründeten Gruppe, wohl klar. Deshalb kümmerte er sich zuletzt vornehmlich um die visuelle Seite der Konzerte als Weg, die Sache interessant zu halten.

Kraftwerks Bühnenauftritte mutierten so zu einem audio-visuellen Spektakel mit durchlaufenden Visuals, die punktgenau mit den Songs korrespondieren. Als ab 2012/13 der Sprung in 3D-Projektionstechnik unternommen wurde, sorgte das für memorable Effekte: So wich man unwillkürlich aus, wenn bei »Spacelab« die Antennenspitze des Raumfahrzeugs einem ins Auge zu stoßen schien oder konnte Kinder dabei beobachten, wie sie die durch die Luft schwebenden Musiknoten bei »Radio-Aktivität« mit den Händen zu greifen versuchten. Doch wie alles Neue hatte auch die 3D-Ära ein baldiges Ablaufdatum: Irgendwann war es nur nervig, die flimsigen Polarisationsbrillen zu tragen, dank derer sich der dreidimensionale Effekt einstellt.

Kraftwerk verabschiedeten sich nach rund einem Jahrzehnt vom 3D-Klimbim, um nun auf gigantomanische Panoramaprojektionen der Fassaden historischer Gebäude wie dem Karlsruher Schloss oder Schloss Schönbrunn in Wien zu setzen. Die Musik geriet ob der rund 170 Meter breiten Projektionen eher in Vergessenheit. Damit waren die Helden der industriellen Volksmusik endgültig zu Event-Entertainern verkommen. Aber zumindest darf man sich trösten damit, dass nach dergleichen Verirrungen der weitere Weg nur zurück an die Wurzeln führen kann. Und was das bedeutet, demonstrieren Kraftwerk auf der aktuellen Konzertreise, die unter dem Motto »Multimedia Tour 2025« steht. Sie ist nicht weniger als eine aufregende Neuerfindung.

»Multimedia«, dieser heute abgegriffen wirkende Begriff stand in den 1980ern und 1990ern für das Versprechen einer besseren Zukunft. Text, Ton und Computergrafik kamen zusammen, um etwa aus Regalmetern von drögen Enzyklopädien bunte Wissensspeicher auf einer durchsuchbaren CD-ROM zu machen. Oder man konnte CD-Singles kaufen, auf denen neben der Musik auch das dazugehörige Video zu finden war. Schöne neue Computerwelt. Multimedia war eine Unterhaltung und Bildung versprechende Verschmelzung digitaler Medien. Doch schnell war die CD-ROM so obsolet wie die Diskette – Multimedia, eine Idee auf dem digitalen Abfallhaufen.

Von dort nun retten Kraftwerk in bester retro-futuristischer Weise die überholte Ästhetik, indem man sie zum Prinzip ihrer Visuals machte. Allenthalben Low-Resolution-Grafiken, wiederholt Glitches bei größeren Bildern, lediglich oszillierende Wellenlinien bei einem Stück wie »Ätherwellen«. Ein beachtlicher Mut zum Rückschritt, der sich freilich als immenser Gewinn erweist, da die nostalgische Bildwelt wunderbar zur retro-futuristischen Ästhetik der Musik von Kraftwerk passt.

Damit aber nicht genug, haben sich Kraftwerk endlich vom Korsett befreit, in das die Livedarbietung der Musik so lange gepresst war. Hütter und Konsorten spielen ein karriereumspannendes Set, das ganze 30 Tracks umfasst, wobei ein Highlight aufs nächste folgt. Mehr noch, der unveröffentlichte Track »Tango« sorgt für freudige Überraschung, wie auch Kraftwerk erstmals überhaupt ein Cover spielen, nämlich das poetische »Forbidden Colors« von Ryūichi Sakamoto aus dem Film »Merry Christmas, Mr Lawrence« von 1983. Hütter widmet es seinem 2023 verstorbenen Freund Sakamoto.

Zwei Stunden lang zeitlose Klänge, eine industrielle Volksmusik aus Düsseldorf, Germany, die in brüderlicher Nähe steht zum Techno aus Detroit, Michigan. Postmoderne Beatgewitter in kristallklarem Sound über Grafiken, die aussehen, als würde ein Commodore C64 aus den Achtzigern sie generieren. Kraftwerk haben sich neu erfunden, ohne sich zu verleugnen. Die einzige Beschwerde an diesem Konzertabend: Die Musik hätte lauter sein können!

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