Müller wird von der Vergangenheit eingeholt
Beim Besuch des Lautarchivs der HU bekommt der Regierende einen O-Ton eines Vorgängers vorgespielt
Der O-Ton könnte kaum aktueller sein. »Diese Stadt muss den Menschen Daseinsbedingungen schaffen«, scheppert es aus den Boxen des Lautarchivs der Humboldt-Universität. Auf der laufenden Schallplatte, von der der O-Ton abgespielt wird, spricht Gustav Böß. Der linksliberale Politiker der DDP war von 1921 an in den Goldenen Zwanzigern Oberbürgermeister in Berlin. Seinerzeit lebten sogar vier Millionen Menschen in der Stadt, politisches Dauerbrenner-Themen der Daseinsvorsorge war unter anderem der Verkehr und der Ausbau des S-Bahn-Netzes - und die Flughafenfrage. »Die Zukunft zu erkennen, ist die Aufgabe desjenigen, der große Gemeinwesen führen will«, sagt Böß.
Aufmerksamer Zuhörer der historischen Aufnahme ist an diesem Mittwochmorgen Berlins aktueller Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). »Mit dem Ausbau der Verkehrswege, das könnte man auch heute sagen«, sagt der Senatschef. Der ist an diesem Tag aber eigentlich als Wissenschaftssenator unterwegs, das Aufgabengebiet hatte sich Müller in den Koalitionsverhandlungen gesichert, weil es für Berlin so wichtig ist und als Zukunftsthema gilt, das in der Regel gute Nachrichten liefert.
Dass es statt wie geplant um die aktuellen Herausforderungen der Digitalisierung um Verkehr und Flughäfen und Infrastruktur geht, dürfte den Regierenden nicht besonders begeistern. Schließlich ist das Medienecho in den vergangenen Wochen alles andere als positiv, in einigen Berichten wird bereits offen über seine Nachfolge diskutiert. Doch wirklich anmerken lässt sich das der SPD-Politiker nicht. Er lächelt etwas gequält, verschränkt die Arme vor der Brust und befragt den Sammlungsleiter des Lautarchivs Professor Sebastian Klotz nach seinen Aufgaben.
Das Lautarchiv mit seinen über 7500 Schellackplatten ist weltweit einmalig. Nicht nur Politiker finden sich in der Sammlung, sondern auch Aufnahmen zu zahlreichen deutschen Dialekten. Während des 1. Weltkriegs wurden in einer Geheimkommission 1600 Aufnahmen von Kriegsgefangenen des Deutschen Reiches gemacht, über 250 Dialekte auch aus fernen Ländern wurden auf Schallplatten festgehalten - im vergangenen Jahr gab es bis 700 Anfragen aus der ganzen Welt, um an die Originaltöne zu gelangen.
»Archiv ist eine irreführende Bezeichnung, Stimmenmuseum kommt der Sache näher«, sagt Klotz, der mit seinem kleinen Team von studentischen Hilfskräften derzeit dabei ist, den Bestand zu erforschen und digital zugänglich zu machen. Doch auch wenn das Lautarchiv bald mit in das Humboldt-Forum umziehen soll, wird es wohl nie ganz öffentlich werden. »Digitalisierung ist hier nicht gleichbedeutend mit einer Freigabe«, sagt Klotz. Vielmehr müssen Interessierte einer Nutzungsvereinbarung zustimmen. Im Humboldt-Forum sollen aber zahlreiche Hörbeispiele des Archivs für Besucher zugänglich sein - gut möglich, dass auch die Stimme von Müllers Vorgänger Böß darunter ist.
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