Warten auf Zukunftsversprechen

Sozialpolitische Maßnahmen der Koalition finden bei Kritikern keine Gnade

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 5 Min.

Alles eine Frage der Perspektive: Als »größtes sozialpolitisches Verbesserungspaket seit vielen Jahren« bezeichnete Carsten Schneider am Mittwoch bei Phoenix die Entscheidungen der Großen Koalition vom Vorabend. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD im Bundestag hoffte gar, dass dies der Auftakt sein möge für einen »Herbst der sozialpolitischen Wende in Deutschland«.

Keine Frage, die Koalition hat Geld verplant für sozialpolitische Zwecke, das man den Nutznießern kaum missgönnen kann. Gemessen am heutigen Rentenniveau sind Rentner Nutznießer, weil eine Senkung unter 48 Prozent notfalls mit staatlichen Mitteln verhindert werden soll. Mit der Forderung, dies bis 2040 zu garantieren, fiel die SPD bei ihren Koalitionspartnern allerdings durch.

Frührentner, Arbeitslose und Geringverdiener sind ebenfalls Nutznießer. Aber auch Normalbeschäftigte, weil sie von einer Reduzierung der Arbeitslosenversicherungssätze profitieren. Wie auch die Wirtschaft profitiert, wenn Arbeitslosenbeiträge um 0,5 Prozent gesenkt werden, denn die Beiträge werden paritätisch von Beschäftigen wie Unternehmen aufgebracht. Letztlich hat sich hier die CSU durchgesetzt. Diese hatte über den Koalitionsvertrag hinaus, der 0,3 Prozent vorsah, Reduzierungen um 0,6 Prozent angestrebt. Zum 1. Januar 2019 wird der Beitrag per Gesetz nun um 0,4 Punkte gesenkt, 0,1 Prozentpunkte kommen befristet bis 2022 per Verordnung dazu. Dann wird der Beitragssatz von jetzt drei auf 2,5 Prozent des Bruttolohns gesunken sein; 2006 lag er noch bei 6,5 Prozent des Bruttolohns. Das Durchschnittsgehalt in Deutschland zugrunde gelegt, spart der Beschäftigte künftig reichlich 15 Euro gegenüber dem jetzigen Beitrag.

Ob es Zufall ist, dass Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei der Planung der künftigen Pflegefinanzierung an einen höheren Pflegebeitrag von ebenfalls 0,5 statt wie bisher 0,3 Prozentpunkten denkt, sei dahingestellt. Derzeit liegt der Satz bei 2,55 Prozent des Bruttoeinkommens. Kinderlose zahlen 2,8 Prozent. Möglicherweise geht die jetzt beschlossene Ersparnis dann auch für den Pflegebeitrag drauf.

Dies sind die Kämpfe der Zukunft. Zu den Kämpfen der Vergangenheit in dieser Großen Koalition zählt hingegen nunmehr wohl neben den Arbeitslosenbeiträgen auch das Rentenpaket. Die nun beschlossene doppelte Haltelinie sieht vor, bis 2025 ein Rentenniveau von 48 Prozent und einen maximalen Beitrag zur Rentenversicherung von 20 Prozent zu garantieren. Vor Beginn der großen Rentenreformen unter Rot-Grün betrug das Rentenniveau noch 53 Prozent. Das ist das Niveau, das die LINKE deshalb unbeirrt fordert. »Die Rente nach fast 20 Jahren Kürzungen zu stabilisieren reicht nicht«, sagt der rentenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Matthias Birkwald. Es gehe darum, die Rente wieder zu einem »echten Zukunftsversprechen« zu machen, »das vor Armut im Alter wirksam schützt und einen sicheren, auskömmlichen und von finanziellen Sorgen unbeschwerten Ruhestand garantiert«.

Andrea Nahles, Partei- und Fraktionschefin der SPD, sieht das offensichtlich schon erreicht. »Der Wertverlust der Rente hat den Leuten zu Recht in den letzten Jahren immer mehr Angst gemacht. Das kehren wir jetzt um«, sagte Nahles am Mittwoch dem Sender RTL. Die Kaufkraft der Renten sei nun gesichert und »das Rentenniveau ist gesichert«. Hingegen warnten Vertreter der Wirtschaft vor dem Rentenkonzept als einem ungedeckten Scheck. Auch der Bund der Steuerzahler sprach davon, dass damit die »Verunsicherung der Bürger geschürt« werde. »Zum Beispiel würde die Fixierung des Rentenniveaus bei 48 Prozent allein im Jahr 2040 zusätzlich 100 Milliarden Euro kosten«, meinte Präsident Reiner Holznagel. Angesichts solcher Angaben spricht Matthias Birkwald von »Horrorzahlen«. Wenn Finanzminister Scholz und Sozialminister Heil es ernst meinten mit ihrer Rentengarantie, dann müssten sie diesen entgegentreten. Birkwald wendet sich gegen die Beitragssatzbremse, über die sich nur die Wirtschaft freue. »Einen Beschäftigten mit dem aktuellen Durchschnittsverdienst von 3156 Euro brutto (West) würde die Anhebung des Rentenniveaus auf 53 Prozent gerade einmal fast 32 Euro mehr an Rentenbeitrag kosten«, so Birkwald. Die Beiträge für eine Riesterrente könne man sich dann sparen.

Die Koalition beschloss auch Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente und der Mütterrente. Alle Frauen, die vor 1992 Kinder großgezogen haben, erhalten einen halben Rentenpunkt mehr. Zunächst war vorgesehen, nur Müttern mit mindestens drei Kindern einen ganzen Rentenpunkt zuzurechnen. Statt drei Millionen profitierten nun zehn Millionen Rentnerinnen von dieser Verbesserung, sagte Heil. Ein Rentenpunkt im Osten liegt bei 30,69 Euro im Monat, im Westen bei 32,03 Euro. Ein halber Rentenpunkt bringt im Osten also rund 15,35 Euro und im Westen rund 16,02 Euro im Monat.

Minister Heil freute sich zudem über die Einigung der Koalition auf ein Gesetz zur Qualifizierung und Weiterbildung auf Kosten der Bundesanstalt für Arbeit. Eine berufliche Weiterbildung soll Arbeitnehmern zugute kommen, deren berufliche Tätigkeiten vom Strukturwandel bedroht sind. Eine 70-Tage-Regelung für eine sozialversicherungsfreie kurzfristige Beschäftigung, die bereits seit 2015 gilt, soll unbefristet verlängert werden.

Ein Mieterschutzgesetz und ein Gesetz zur steuerlichen Förderung des Mietwohnungsneubaus sind ebenfalls nahe gerückt. Sie sollen in der nächsten Woche dem Kabinett vorliegen. Beim Mieterschutz geht es um Maßnahmen gegen Verstöße von Vermietern gegen die Regeln der Mietpreisbremse. Justizministerin Katarina Barley (SPD) freute sich am Mittwoch bereits über eine Stärkung der Mieterrechte. »Wir werden verhindern, dass Menschen in Zukunft aus ihrem Zuhause raussaniert und gewachsene Wohnviertel zerstört werden.« Wie dpa meldete, einigte sich die Koalition auf eine umfassende Begründungspflicht für Vermieter vor Vertragsabschluss, wenn sie zehn Prozent oder mehr auf die ortsübliche Miete aufschlagen wollen. Das dürfen sie, wenn schon die Vormiete hoch war, saniert wurde oder es sich um einen Neubau handelt, sie müssen den künftigen Mieter aber darüber informieren. Der DGB hingegen forderte, in das Gesetz müssten Sanktionen, etwa Bußgelder aufgenommen werden. Ihm reichen die bisherigen Vorhaben nicht aus. Mit Agenturen

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