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Flucht in die Leiharbeit

Der Pflegenotstand treibt Beschäftigte in die Arme von Zeitarbeitsfirmen - was ihn zusätzlich verschärft

30 Jahre lang arbeitete der Berliner Krankenpfleger Johannes Kutz fest angestellt in ein- und demselben Haus, vor drei Jahren wechselte er zu einer Zeitarbeitsfirma. Freiwillig. »Ich hatte die Faxen dicke«, sagt Kutz. Der 55-Jährige, spezialisiert auf Anästhesie, hat erlebt, wie die Arbeit im Krankenhaus immer anstrengender wurde. »Es gab immer mehr ältere und kränkere Patienten und zugleich wurde Personal abgebaut.«

Am meisten litt Kutz unter den Dienstzeiten. Weil er unverheiratet ist, blieben überdurchschnittlich viele Spät- und Wochenenddienste an ihm hängen. Mitsprachemöglichkeiten beim Erstellen der Dienstpläne gab es kaum. »Es hat einfach keinen Spaß mehr gemacht.« Ein Wechsel in ein anderes Haus war für ihn keine Lösung. »Über kurz oder lang wäre ich auf dieselben Probleme gestoßen«, ist Kutz überzeugt.

Jetzt ist er bei der pluss Personalmanagement GmbH unter Vertrag, einem bundesweit agierenden Zeitarbeitsunternehmen, das sich unter anderem auf die Überlassung von medizinischen Fachkräften spezialisiert hat. Dort verdient er genauso viel wie vorher. 2200 netto bei einer 80-Prozent-Stelle. Aber ums Geld ging es ihm ohnehin nicht. »Mein größter Pluspunkt: Ich kann mir die Dienstzeiten aussuchen«, sagt er. Heute arbeitet er überwiegend im Frühdienst, von Montag bis Freitag, bekommt kurzfristig freie Tage, muss seinen Urlaub nicht mehr ein Jahr im voraus planen. »Ich habe noch nie in meinem Leben so regelmäßig gearbeitet.«

Außerhalb der Anästhesie werden Leiharbeitskräfte freilich auch für unattraktive Dienstzeiten »geleast«. Oder anders gesagt: Gesucht wird Pflegepersonal zu allen Zeiten. Leiharbeiter in der Pflege sind längst nicht mehr nur Puffer, um kurzzeitig auftretende Personallücken zu stopfen, etwa wenn die Grippewelle auch die Pflegekräfte erwischt. Sondern sie werden gebucht, um den ganz normalen Alltagsbetrieb aufrechtzuerhalten.

In Krankenhäusern und Pflegediensten ist die Zahl der Leiharbeiter im vergangenen Jahr um 50 Prozent gestiegen, wie aus aktuellen Daten der Bundesagentur für Arbeit vom Juli hervorgeht. Waren im Dezember 2016 noch 14 390 Gesundheits- und Krankenpfleger auf Zeitarbeitsbasis beschäftigt, sind es ein Jahr später bundesweit 21 751. Nimmt man Rettungsdienste und Geburtshilfe hinzu, werden aus 16 665 Leiharbeitern 25 344. In der Altenpflege hat sich hingegen wenig verändert. Hier ist die Anzahl fast gleich geblieben, im vergangenen Dezember waren es 12 853. Trotz der steilen Wachstumskurve ist der Anteil von Leiharbeit in der Branche allerdings - gemessen an insgesamt mehr als einer Million Pflegekräfte - immer noch relativ gering.

Aber das Wachstum verweist auf ein Problem. Noch 2005 waren die etwas mehr als 3000 Zeitarbeiter in den Gesundheits- und Pflegeberufen eine fast zu vernachlässigende Größe. Inzwischen gibt es zwölf Mal so viele. Der Boom der Leiharbeit gehört zu den Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, die unsichere und obendrein schlechter bezahlte Beschäftigungsformen verstärkt hat.

Die Mehrzahl der Leiharbeiter in Metallbetrieben oder in der Logistik hofft denn auch, von einem Einsatzbetrieb übernommen zu werden. Anders in der Pflege: Hier ist Leiharbeit ein Fluchtweg aus den belastenden Arbeitsbedingungen. »Zeitarbeitskräfte können persönliche Wünsche für Einsatzzeiten äußern und müssen - nach Rücksprache mit ihrem Zeitarbeitsunternehmen - nicht im Schichtdienst oder am Wochenende arbeiten«, erklärt der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ). Aufgrund von Zulagen zum Tarifvertragslohn verdienen sie nach seinen Angaben »in der Regel mehr als ihre direkt angestellten Kollegen«. Dafür wird von ihnen hohe Flexibilität verlangt, wenn sie an ständig wechselnden Orten eingesetzt werden. 18 Monate dürfen Leiharbeiter höchstens am Stück in einem Haus beschäftigt sein. Eine echte Schranke ist das nicht. Nach drei Monaten Pause fängt die Rechnung von vorne an.

Zeitarbeit ist eine individuelle Lösung, andere gehen in Teilzeit oder geben den Beruf ganz auf. Johannes Kutz sieht es so: »Leasing verhindert, dass sich die Leute komplett aus der Pflege verabschieden.«

Die Meinung der Stammbeschäftigten über ihre wechselnden Kollegen ist zwiespältig. Auf der einen Seite werden sie durch die zusätzlichen Kollegen entlastet. Auf der anderen Seite können Sonderabsprachen mit den Zeitarbeitsfirmen dazu führen, dass sich ihre Lage noch verschärft: Besteht die Zeitarbeitsfirma auf den familientauglicheren Frühschichten, müssen die Stammbeschäftigten den Rest unter sich aufteilen. Und fällt jemand plötzlich aus, klingelt das Telefon bei ihnen zu Hause. Sie sind es, die aus dem »frei« geholt werden. »Es wird nicht einfacher, wenn viele im Leasing verschwinden«, sagt eine Anästhesistin eines kleineren Berliner Krankenhauses. Unter Ärzten ist Leasing ebenfalls verbreitet, die Situation stellt sich hier ganz ähnlich dar. Je größer der Anteil der Leihpflegekräfte, umso mehr blieben Verwaltungs- und Dokumentationsaufgaben an der Stammbelegschaft hängen; Material bestellen, Schränke auffüllen, Müllbeutel entsorgen. »Auch die Qualität der Arbeit sinkt«, warnt die Ärztin. »Die Leute kennen sich im Haus nicht aus, wissen in einem Notfall nicht, wo etwas steht. Sie müssen sich immer erst reinfinden in die Arbeitsstrukturen.« Für die ohnehin stark beanspruchten Beschäftigten entsteht daraus eine Zusatzbelastung.

Gewerkschaften stehen vor einem Dilemma. Leiharbeit kann für den Einzelnen Entlastung bringen, zugleich verschärft sie jedoch strukturelle Probleme. »Individuell ist der Wechsel in die Leiharbeit oft nachvollziehbar. Für die Versorgung der Patientinnen und Pflegebedürftigen und für die Zusammenarbeit im Team ist es aber verheerend«, sagt Sylvia Bühler, im ver.di-Bundesvorstand zuständig für den Bereich Gesundheit. Auch für die kollektive Interessenvertretung ist sie ein Hindernis. Durch Leiharbeit wird die ohnehin bereits aufgespaltene Krankenhausbelegschaft weiter zersplittert, was gewerkschaftliche Organisierung und Mitbestimmung erschwert.

Die Frage der Vergütung stellt die Gewerkschaft etwas anders dar als der Verband der Zeitarbeitgeber. Ihr zufolge kann unter bestimmten Bedingungen tatsächlich die Situation auftreten, dass Leihpflegekräfte besser bezahlt sind. »Sie sind sich ihrer guten Verhandlungsposition bewusst, was in Teilen auch zu besserer Bezahlung führt - zumindest im unmittelbaren Vergleich mit den Kolleginnen und Kollegen im Betrieb«, erklärt Bühler. Das trifft jedoch vor allem für nicht-tarifgebundene Einrichtungen zu, immerhin gibt es für die Zeitarbeit einen Tarifvertrag, den DGB und iGZ geschlossen haben. »Im Vergleich zum Niveau tarifgebundener Einrichtungen ist die Bezahlung aber immer noch mies«, betont Bühler. Bei der Zeitarbeitsfirma, die Johannes Kutz unter Vertrag hat, heißt es, man bezahle »ziemlich exakt« auf dem Niveau der Stammbeschäftigten. Wie auch immer: Punkten kann die Zeitarbeit weniger beim Geld, als bei den allgemeinen Arbeitsbedingungen. Das schätzt ver.di genauso ein.

Grundsätzlich hat Leiharbeit auch für Krankenhäuser Nachteile, weil sie mehr Geld kostet als fest angestellte Mitarbeiter - es will ja immer noch jemand mitverdienen. Aber offenbar ist ihnen das immer noch lieber, als die Arbeitsbedingungen generell zu verbessern. Die Krise im Gesundheits- und Pflegesektor verhilft somit einer schlecht beleumundeten Branche nicht nur zu höheren Profiten, sondern sogar zu einem Imagegewinn.

Die Gewerkschaft ver.di stellt ihre Existenzberechtigung dennoch gänzlich infrage. Es könne nicht sein, empört sich Bühler, »dass neben den Konzernen und profitgierigen Finanzinvestoren, die sich inzwischen in der Branche tummeln, auch noch Leiharbeitsfirmen ihren Gewinn abschöpfen«. Schließlich seien es Sozialversicherungsbeiträge und Steuern, die ins System fließen - und für eine gute Pflege eingesetzt werden sollten statt zur Gewinnmaximierung.

Gesamtgesellschaftliche Erwägungen sind für den Einzelnen allerdings kaum ausschlaggebend. Da ist es eher eine Typfrage, ob Leiharbeit infrage kommt. Man wird zu keiner Betriebsfeier eingeladen, keiner gratuliert zum Geburtstag oder fragt nach den Kindern - man gehört nirgendwo richtig dazu.

Johannes Kutz stören die wechselnden Einsatzorte nicht. Aber er weiß von Kollegen, dass ihnen »die Arbeitsfamilie« fehle. 30 Jahre lang war Kutz ja ebenfalls ein Teil einer Familie. Nun hat er in drei Jahren 30 Häuser in Berlin sowie im näheren Umland kennengelernt. Keines konnte ihn zurück in eine Direktanstellung locken. Bei 30 Prozent mehr Gehalt, wie es kürzlich Gesundheitsminister Jens Spahn für angemessen erklärte, und vernünftigen Dienstzeiten würde er es sich noch einmal überlegen.

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