Ruth Kraft (Ahrenshoop, 1963)

Unbekannte Bekannte

  • Walter Kaufmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Ich hatte ihr meine Bücher nie aufgedrängt, und sie mir nicht ihre - und doch, erst als es ihr nicht länger dafürstand ihre literarischen Erfolge in unsere Gespräche einzuflechten, entfaltete sich unsere Beziehung. Spuren von Rivalität? In mir sicherlich - sind nicht fast alle Künstler dafür anfällig?

Wie dem auch sei, mit der Zeit befreundeten wir uns. Sommers fand ich mich oft in ihrem Ahrenshooper Ferienhaus ein: Ruth Kraft pflegte ein offenes Haus, war stets gastfreundlich - ich dankte ihr das, indem ich sie am Auf und Nieder meines - wie sie fand - abenteuerlichen Lebens teilhaben ließ. Zugleich fühlte ich mich durch sie auf angenehmste unterhalten: Ich erlebte sie als kunstverständige, gebildete, in ihrer Art vornehme Frau, die anschaulich zu erzählen wusste, auch herzlich gern plauderte, eine Frau mit sehr besonderer Vergangenheit und lebendiger Gegenwart. Sie hatte mir vier Jahre voraus - wesentliche Jahre, wenn man bedenkt, dass sie zu Anfang des braunen Spuks dreizehn Jahre alt war, und ich erst neun. Nie ließ sie mich spüren, wie sehr beeinflusst sie gewesen war vom Geist jener Zeit. Anders hätte ich sie kaum für eine Jüdin halten und mich lange fragen können, wie sie die Nazizeit überstanden hatte. Später, als ich Genaueres erfuhr, korrigierte ich das gründlich, wiewohl ein Hauch des ersten Eindrucks blieb - haftete nicht auch ihrer Eva, der weiblichen Hauptfigur in »Insel ohne Leuchtfeuer«, etwas Jüdisches an, war die nicht gar als Halbjüdin angelegt?

Kurzum, mit der Zeit wurden Ruth Kraft und ich ein Paar, nein - kein Liebespaar; wir wurden ein schwesterlich-brüderliches Paar mit denkbar unterschiedlichen Herkünften, sie die Tochter eines deutschen Kaufmanns im preußischen Sachsen, ich der Sohn einer polnisch-jüdischen Verkäuferin, die mich bis zu meinem dritten Lebensjahr im Berliner Scheunenviertel großgezogen hatte, und dann - aus welcher Not auch immer - einem wohlhabenden Duisburger Ehepaar überließ. 1940, als die technische Rechnerin Ruth Kraft in die aerodynamische Abteilung der Heeresversuchsanstalt Peenemünde verpflichtet wurde, deportierte man mich Sechzehnjährigen als feindlichen Ausländer von England nach Australien - unterschiedlichere Wege sind kaum denkbar.

Und doch: Ruth Kraft und ich blieben schwesterlich-brüderlich. Ich offenbarte ihr meine Ehekonflikte und die Gründe dafür, sie hörte gut zu, beriet mich, und gab mir Einblicke in die eigene Ehe, die wegen ihrer Beziehung zu einem in Leipzig lehrenden, weitbekannten Dichter erkaltet war.

Je tiefer wir in unsere Leben sahen, je unentbehrlicher wurden wir für einander, wobei die Gewichte ungleich verteilt blieben, bis auch ihr Sohn Renè und ihre Tochter Ines zu mir fanden, sie sich mir derart zugetan zeigten, dass dieses unentbehrlich sich über die Jahre hielt.

Wer gesellte sich wieder und wieder ins Ahrenshooper Ferienhaus der Ruth Kraft, nahm teil an so mancher Mahlzeit dort, brachte Whiskey mit und trank ihren Wein, und wer siedelte sich schließlich im Nachbarort Born auf dem Darß an? Antwort und Gründe liegen auf der Hand. Und wer die versteht, wird verstehen, dass ich Ruth Kraft als eine junge Frau von vierzig in Erinnerung behalten will, als schlanke, zierliche Frau mit dunklem Haar, sinnlichem Mund und sprechenden Augen, und der leicht gebogenen Nase einer biblischen Jüdin - und nie wird es mir in den Kopf wollen, dass sie in unsäglichen Zeiten, willentlich oder unwillentlich, dem Todfeind jener Menschen zu dienen hatte, die im polnischen Oswiecim umgebracht wurden.

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