Nur kurzfristig attraktiv

Jean Sivardière kritisiert die Folgen des kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs in Frankreich

  • Ralf Klingsieck
  • Lesedauer: 4 Min.

Man sollte annehmen, als Verband der Nutzer begrüßen Sie kostenlosen Transport. Warum ist das nicht der Fall?

Weil es zwar kurzfristig attraktiv, mittel- und langfristig aber die falsche Lösung ist. Kostenloser Nahverkehr wäre teuer, weil man auf den finanziellen Beitrag derer verzichtet, die zahlen können. Wenn die Mittel aus dem Ticketverkauf wegfallen, die auch jetzt schon nur einen Teil der Kosten decken, dann müsste das kompensiert werden. Durch eine höhere Transportsteuer für die örtlichen Unternehmen und noch mehr Beihilfen aus den Haushalten der Kommunen oder der Kommunalverbände, deren Finanzlage wegen der aktuellen Sparzwänge bereits äußerst angespannt ist.

Jean Sivardière

Nachdem kostenloser öffentlicher Personennahverkehr schon in mehr als 30 kleinen und mittleren Städten Frankreichs getestet wurde und sich am 1. September mit Dünkirchen die erste Großstadt angeschlossen hat, hat der Nationale Verband der Transport-Nutzer FNAUT das Thema untersucht und ist zu einem negativen Ergebnis gelangt. Der Verband kritisiert die hohen Kosten für die Kommunen. In Dünkirchen etwa, wo jetzt 200 000 Einwohner in den Genuss von kostenlosem Transport kommen, macht die Umstellung einen Einnahmeverlust von 4,5 Millionen Euro im Jahr bei einem Kostenbedarf von 65 Millionen Euro aus. Als Konsequenz wurde der seit Jahren geplante Bau eines Straßenbahnnetzes aufgegeben. Über diese Nachteile des kostenlosen Nahverkehr sprach »nd«-Korrespondent Ralf Klingsieck mit dem stellvertretenden FNAUT-Präsidenten Jean Sivardière.

Deckt sich Ihre Einschätzung mit den Erfahrungen der Städte, die bisher schon kostenlosen Transport anbieten?

Meist handelte es sich um Städte mit einem eher bescheidenen Transportnetz, so dass sich die Gesamtkosten und damit auch die Einnahmeverluste in Grenzen hielten. Aber überall mussten die Nutzer feststellen, dass das Transportangebot auf ein Minimum beschränkt wurde, um die Kosten nicht ausufern zu lassen. Das ist also weit entfernt von einer optimalen Situation. Das Thema kostenloser Transport hat immer Konjunktur, wenn Wahlen anstehen und um Stimmen gebuhlt wird. Der Prüfung durch die Praxis hält das nicht lange stand. Im Ausland, wo man mit dem kostenlosen Transport viel früher angefangen hat als in Frankreich, wurde das Experiment meist bald wieder aufgegeben, weil die Kommunalpolitiker festgestellt haben, dass die Nachteile größer waren als die Vorteile. Das beste Beispiel ist die italienische Stadt Bologna, die den kostenlosen Transport in den 1970er Jahren eingeführt und nach fünf Jahren wieder abgeschafft hat. Heute verfügt Bologna über ein beispielhaftes Netz von öffentlichen Transportangeboten. Das hätte nicht aufgebaut werden können, wenn man beim kostenlosen Transport geblieben wäre.

Was sagen die Nutzer selbst?

Kostenloser Transport ist keine Forderung, die breite Kreise der Nutzer bewegt und mobilisieren könnte. Die wollen Nahverkehr von Qualität, also schneller, bequemer und vor allem mit hoher Frequenz, und das nicht nur im Berufsverkehr, sondern auch tagsüber und bis in den späten Abend. Die Frage des Preises kommt erst danach. Aber auch dann wird meist kein kostenloser Transport gefordert, sondern moderate, sozial verträgliche Preise. Die Nutzer verstehen sehr gut, dass ohne ihren Beitrag keine nachhaltige Verbesserung möglich ist, denn mehr Fahrzeuge, Fahrer und damit höhere Frequenz haben ihren Preis. Anfangs hatte man vielerorts gehofft, durch kostenlose Angebote Autofahrer zum Umsteigen auf den öffentlichen Transport zu bewegen. Tatsächlich traf das aber im Schnitt nur für etwa ein Prozent zu. Beispielsweise sank in Châteauroux der Anteil des Autos am städtischen Verkehr nur von 70 auf 69 Prozent.

Was halten Sie von dem Argument, dass kostenloser Transport das Recht aller Bürger auf Mobilität sichert?

Das ist Ideologie. In der Praxis läuft das nur zu oft auf ein dürftiges Minimalangebot mit veralteter Technik hinaus, oft mit nur wenigen Verbindungen am Morgen und Abend. Damit ist doch niemandem gedient. Stattdessen befürworten wir solidarische Tarife, die nach der sozialen Lage gestaffelt sind. In Straßburg hat man das beispielhaft verwirklicht. Das reicht vom vollen über einen ermäßigten Tarif bis zum kostenlosen Transport für die sozial Schwächsten. Gleichzeitig gibt es dort das wohl beste Transportangebot aller französischen Großstädte außer Paris. Lyon hat die höchsten Tarife in Frankreich, trotzdem wird hier der Nahverkehr mit 360 Fahrten pro Einwohner und Jahr öfter genutzt also anderswo in Frankreich. Dagegen bringen es Aubagne und Niort mit ihrem kostenlosen Transport nur auf durchschnittlich 55 Fahrten. Was letztlich zählt, ist Qualität. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Im Interesse eines optimalen Angebots sind wir gegen kostenlos für alle, nicht gegen kostenlos für die Einkommensschwächsten.

Dagegen steht das Argument, was kostenlos ist, werde nicht geachtet und führe zu verstärktem Vandalismus. Teilen Sie diese Auffassung?

Überhaupt nicht. Wir stellen fest, dass Vandalismus eine Randerscheinung ist und die absolute Ausnahme darstellt. Die übergroße Mehrheit der Nutzer ist stolz auf ihren modernen Nahverkehr. Sie verurteilen Angriffe und tragen oft aktiv dazu bei, Vandalen das Handwerk zu legen.

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