Richtig abstressen

  • Christof Meueler
  • Lesedauer: 3 Min.

Früher gab es Gasthäuser und Restaurants. Eine bipolare Ausgehordnung. Die einen waren laut und neonleuchtenhell, die anderen ruhig und bis zur Tischlampe abgedunkelt. In Gasthäusern gab es viel Alkohol, salzige Nüsse, Tagessuppe und Stammessen. In Restaurants gab es viel Alkohol, keine salzigen Nüsse und eine Speisekarte. Wer für solche Erinnerungen zu jung ist, der schaue auf Youtube alte Fernsehkrimis: »Der Kommissar« (Gasthaus), »Derrick« (Restaurant) oder »Polizeiruf 110« (beides).

Die bipolare Ausgehordnung gibt es schon lang nicht mehr, sie wurde mit der bipolaren Weltordnung 1990 aufgegeben. Seitdem ist Crossover; Gasthäuser wollen wie Restaurants wirken und Restaurants wie Gasthäuser. Restaurants möchten funktional sein, schnickschnacklos. Kein Fernseher, kein Radio, keine salzigen Nüsschen, nur das Essen auf dem Teller. Aber leider auch keine Tischdecken, Gardinen, Teppiche, die den Lärm dämpfen.

Es begann wirklich Anfang der 90er in Ostberlin, als vorzugsweise in Mitte und in Prenzlauer Berg die alten Kneipen zu Restaurants umfrisiert wurden. Die Wänden waren orange gestrichen (Schwämmchentechnik) und die Tische waren bloßes Holz und weil das einzige Fenster das Schaufenster zur Straße hin war, gab es auch keine Gardinen. Dazu HipHop, eher laut. Und Gespräche, noch lauter. Das kann brutal sein, wenn man nicht versteht, was sein Gegenüber sagt, weil die Leute drei Tische weiter am Durchdrehen sind - oder die Bedienung, weil sie sonst untergeht.

So ist es seit jeher Brauch im konstant beliebten »I due Forni« nahe Senefelder Platz in der Schönhauser Allee 12. Wer sich beim Essen mal richtig abstressen will, der oder die gehe da hin. Gute Pizza, ja, korrekte politische Einstellung, in der Tat; aber die Bedienung weiß nicht ein noch aus. Sie hat einfach viel zu viel zu tun. Wer von ihr bemerkt werden will, um etwas zu bestellen, muss schreien.

Noch lauter ist es in der Brasserie Le Paris, direkt beim Institut Francais, Kurfürstendamm 211. Nirgends die Gläser heller klingen, auch die Teller und die Bestecke knallen auf den Tischen als wäre immerzu Silvester. Fast alle Gäste scheinen wild am Reden, aber verstehen sie sich auch? Mentalität schlägt Qualität, wie es im Fußball gerne heißt.

Und in der etwas gehobenen Gastronomie? Im ausgesucht dezent eingerichteten L‘Escargot, Brüsseler Straße 39 im Wedding wird einem sehr gutes Essen (mediterran und intelligent - zum Verlieben) freundlich serviert. Was könnte schöner sein? Ein Lokal, in dem man nicht die Gespräche an den Nebentischen mithören müsste, als wäre man zwangsweise ein Spion. Vielleicht macht mal jemand das Radio oder den Fernseher an?

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