Radikaler als seine Antiästhetik

Zum 50. Todestag des französischen Künstlers Marcel Duchamp

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

An der Akademie Julian in Paris malt er gegen 1904 noch kubistische Bilder und nimmt sich dafür Braque und Picasso zum Vorbild. Auch versucht er sich an expressionistischen Werken und arbeitet eine Zeit lang als Karikaturist für ein humoristisches Magazin in Paris. Aber bald erübrigt sich derlei, und er zog es vor, Kunst nicht mehr vom Werk her zu definieren, sondern von alltäglichen Materialien, welche zu bearbeiten, umzubauen seien. Die Gestalt der Dinge wie das Ding schlechthin interessieren ihn, etwa das Motorrad im Schaufenster oder die Puppe im Kinderladen. Kunst müsse sich ereignen, und darum gehören keine »Werke«, wohl aber Räderwerke, Gitter, Gläser, Klobürsten, Fetzen Papiere, eben Ready-mades in den Raum. Der 1887 in Blainville-Crevon im Nordwesten Frankreichs geborenen Marcel Duchamp ist der erste unter seinesgleichen, der Kunst völlig anders anschaut. Irgendwann kauft er an einem Tag im Eiswarenladen nebenan eine Spitzkacke und stellt sie in seinem Atelier so auf, dass sie nicht mehr gewöhnlich wirkt. Rendezvous mit dem Objekt, nennt er jenen »kreativen Akt«, oder »Komposition für diesen Tag«. Derlei entbehrte nicht eines gewissen Humors. »Rad« aus dem Jahr 1913 ist sein erstes Ready-made. Er entnahm es einem standardmäßigen Fahrrad und stellte es so auf einen Sockel wie die alten Griechen ihre Gipsköpfe.

Freilich geht mit dem negierten »Werk« auch alles Expressive, Schöne, Anmutige über Bord. Duchamp wollte Objektives, die eigene Persönlichkeit Unterdrückendes hinstellen - etwas, was absichtslos sich selbst repräsentiert. So verstand er sich als Teil des Minimalismus, einer Kunstströmung in den USA, die keineswegs allein auf den Erfindungen der Komponisten Steve Reich, Philip Glass oder La Monte Young beruhte, sondern in allen Künsten und an verschiedenen Orten gleichzeitig auftrat. Das Maschinelle, Immergleiche, Expandierende des Neoliberalismus, der in den USA mindestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts sein Haupt erhob, ist dem Minimalismus eingeschrieben. Zu ihm gehörte auch die New Yorker Schule um John Cage (1912-1992). Cage war von Duchamps Denk - und Verfahrensweisen hingerissen. Lehnte der Ältere, der US-Bürger geworden war, die sogenannte Ausdruckskunst ab, so der Jüngere alles, was auf harmonischen Grundlagen beruhte.

Schon in der Vorkriegszeit provozierten seine Ausstellungen Eklats. Duchamps Ansichten zur Kunst wirkten oft radikaler als seine alles »Ästhetische« konterkarierenden Objekte. Die Pädagogen und Spießer empörte beides, die jovialen Bildungsbürger belächelten, was sich da an Kuriosem bot, während die Galerievereine das Angebot von Rädern auf Holz und nackten Pissoirs wie Treibholz auf dem Fluss anschauten: Ereignisse ohne Zukunft. Sie irrten. Allein Jugend spürte den Humor darin, angehende Künstler waren angetan von der Nacktheit und Direktheit dieser Welt, und das ganze Gerede darum scherte sie einen Dreck. Allerdings so etwas wie krisenhaften Umständen, unter denen Künstler häufig litten (und leiden), Rivale zu sein, fiel nicht in seinen Horizont. Nach »Wahrheit« der Kunst hat er so wenig gefragt wie nach »Semantik« und »Wirklichkeit«: »Ich handle nicht in Absichten, ich beschäftige mich mit Linien und Kurven, Farben und Objekten.« Duchamps Erfindungen gehören zum expandierenden Repertoire eines Pluralismus, der fundamentale Systeme sprengte und zugleich der Banalität Tür und Tor öffnete. Das geht bis in unsere Tage. »Die gesamte Kunstszene ist auf so niedrigem Niveau, ist so kommerzialisiert, - Kunst oder alles, was damit zu tun hat, ist die niedrigste Form von Aktivität in dieser Epoche«, so Duchamp in jüngeren Jahren. Das stimmte und stimmt wieder nicht. Aber der Satz trifft tief in der Kerbe des Umgangs mit Massenkunst und die unbeschreibliche Frechheit der Konzernmedien, sich dauernd der Mittel der Avantgarde zu bedienen, sie zu verdünnen, zu banalisieren, zu verschleißen und darüber die Augen und Ohren zuzukleistern.

Duchamps Materialideen weisen weit in die Zukunft. Dauernd wiederholt der aktuelle Betrieb seinen Rang als Entdecker der Konzeptkunst und der Pop-Art. Dabei sind viele seiner Konstruktionen verschollen oder reparaturbedürftig. Tatsächlich führte der große Innovator die Polystilistik ein und gilt um die Zeit des Weltkriegs herum als prononcierter Vertreter von Dada, der Instanz, die Verfahren der bildnerischen Collage und Montage einführte und neben deren Verfeinerung auch politisierte und schließlich auf alle übrigen Künste ausstrahlte. Seine kritische Haltung zum Kunstbetrieb, seine Zurückweisungen der individualistischen Kunst, die, so meinte er, den größten Unsinn angestellt habe, animierten Schwärme von Literaten, bildende Künstlern, Fotografen, Filmemachern, Musikern zur Nachahmung. Brecht, durchaus bekannt mit Arbeiten des Kollegen, äußerte: »Man kann das Zentrum von Duchamp nicht mit Sprache benennen, aber empfinden.«

Duchamp machte Bilder, Fotos, Plakate, entwarf kubistische, surreale Zeichnungen, malte Ölporträts, schuf Dada-Kunst. Er radierte, illustrierte und spielte hervorragend Schach. Cage, selber Schachenthusiast, komponierte mit ihm sogar eine Partie. Mit seinen ichabwesenden Ready-mades präsentierte er Gegenstände des Massenbedarfs, die keinerlei Anziehung ausüben und es verbieten, sie wie Kunstwerke zu betrachten. Für Musik, die neue seiner Zeit, hatte er viel übrig, verwarf aber ihren Sinn und Persönlichkeitswert. Mehrmals nahm sich der frühe Duchamp die Violine zum Motiv. Bekannt sein Bild »Musikalisches Erratum« mit Tusche auf Notenpapier - ein Werk, dessen Kenntnisnahme angehende Avantgardisten noch näher an Duchamps Konzepte heranrücken ließ. Kurios sein Satz: »Wörter wie etwa Wahrheit, Kunst, Lebensnähe oder sonst etwas sind in sich töricht. Und so bestehe ich darauf, jedes Wort, das ich zu Ihnen jetzt sage, ist töricht und falsch.« Marcel Duchamp wusste es und viele andere wissen es. Der Künstler hat geschichtliche Arbeit geleistet. Schaffenskrisen hatte er durchmachen und Hunderte öffentliche Anwürfe ertragen müssen. Auch schwieg das Projekt seiner Kunst lange Zeit, was aber sich änderte. Als Marcel Duchamp 1968 mit 81 Jahren starb, befand er sich auf dem Gipfel seines Ruhms. Die Nachrufe allein der US-Presse überschlugen sich vor Wertschätzung. John Cage stellte fest: »Hätte er nicht gelebt, wäre es notwendig, dass jemand genauso wie er gelebt hätte.« Nun ist Marcel Duchamp am heutigen Tag seit 50 Jahren tot.

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