Kurdische Parteien nach der Wahl im Streit

Enttäuschung und Verbitterung über die politische Entwicklung der Region in der Bevölkerung

  • Oliver Eberhardt, Erbil
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Enttäuschung steht ihm ins Gesicht geschrieben: »Wir haben hier bis jetzt kaum was zu tun gehabt«, sagt Blend Surchi. Der Wahlbeamte sitzt an diesem Sonntagnachmittag in der Turnhalle einer Schule am Stadtrand von Erbil, während in der Nähe eine Gruppe von Männern und Frauen jeden Handgriff beobachten, den Surchi und seine Kollegen tätigen: Alle großen Parteien haben heute Beo-bachter in die Wahllokale geschickt; viel zu sehen gibt es aber hier und anderswo nicht: Nach offiziellen Angaben werden am Ende gerade einmal 57 Prozent der Wähler zur Wahl gegangen sein: »Ich hatte auf mehr gehofft«, sagt Surchi, »es zeigt, dass die Menschen kein Vertrauen mehr in die politischen Parteien haben.«

Das Misstrauen sitzt in der Tat tief. Noch während die Wahllokale geöffnet waren, herrschte bei der Wahlkommission hektische Aktivität; denn kurdische Medien berichteten von Wahlfälschungen, von Wählerbeeinflussungen. In Sulaimanijah flüchteten die Wahlbeamten aus dem Wahllokal, nachdem sie von bewaffneten Männern bedroht worden waren. »Es ist unfassbar, dass so etwas in Kurdistan passieren kann«, sagte eine Augenzeugin dem Fernsehsender Al Iraqiyah.

Und auch der bisherige Regierungschef Nechschirwan Barzani räumte am Montagmorgen offen ein: »Wir befinden uns an einem Scheideweg, der uns entweder in die Demokratie oder die Dunkelheit führt.« Seine Demokratische Partei Kurdistans (KDP) führt derzeit bei der Stimmauszählung; am Montagnachmittag wurden ihr 45 der 111 Parlamentssitze vorhergesagt, und damit sieben mehr als bei der letzten Wahl vor fünf Jahren. Zweitstärkste Kraft dürfte die Patriotische Union Kurdistans (PUK) mit momentan 21 Mandaten (+3) werden; die Bewegung der neuen Generation (BnG), eine Neupartei, kommt auf acht Sitze. Wahlverliererinnen sind nach derzeitigem Stand die zentristische Gorran, sowie die islamistischen Parteien. Elf Sitze sind für die assyrischen, turkmenischen und armenischen Parteien reserviert.

Wie es weiter gehen soll, kann aber derzeit niemand sagen: Mehrere Parteien haben Einspruch gegen die Wahl eingelegt. Doch selbst wenn die Wahlkommission das Ergebnis am Ende bestätigen sollte: Ob eine Regierungsbildung möglich sein wird, ist völlig offen. Denn Gorran und BnG machen eine Koalition mit Barzanis KDP davon abhängig, dass sich Barzani zu umfassenden Reformen bereit findet; vor allem die Peschmerga - Milizen, die überwiegend entweder mit KDP oder PUK verbündet sind -, aber gleichzeitig auch eine militärische Rolle einnehmen, möchten die beiden Parteien unter Kontrolle bringen. Doch weder KDP noch PUK wollen auf diesen Machtfaktor verzichten. Das Tischtuch zwischen KDP und PUK, die bislang eine Einheitsregierung bildeten, ist indes zerschnitten.

Im Kern geht es bei dem Streit zwischen beiden Parteien, welchen hochrangigen Posten die kurdische Bevölkerungsgruppe künftig in der irakischen Zentralregierung bekleiden soll, und welche Partei diesen Posten dann besetzen darf. Denn seit dem Sturz von Saddam Hussein ist es Praxis, dass die Ämter des Parlamentssprechers, des Regierungschefs und des Präsidenten jeweils von einem Schiiten, einem Sunniten und einem Kurden besetzt werden.

Bislang stellten die Kurden mit Fuad Masum den Präsidenten; Masum gehört der PUK an, die auch weiterhin darauf besteht, das vor allem repräsentative Amt des Präsidenten zu besetzen. Doch Barzani und KDP sperren sich nun erstmals dagegen.

Es sei »nicht vermittelbar«, warum eine Partei, die nicht einmal in der Autonomen Region Kurdistan die stärkste Kraft sei, das Staatsoberhaupt Iraks stellen sollte, sagt Barzani. Ihm und seinem Onkel Masud Barzani, der im November vergangenen Jahres zurücktrat, nachdem ein Unabhängigkeitsreferendum zur militärischen Konfrontation mit der Zentralregierung in Bagdad geführt hatte, werden Ambitionen auf eine größere politische Rolle im Gesamtirak nachgesagt. Mehrmals sprach Barzani mit dem Geistlichen Muktada al-Sadr, dessen Saairun-Partei als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl im Mai hervorgegangen war; Sadr ist selbst nicht Mitglied des irakischen Parlaments. Offen sprechen Funktionäre der KDP darüber, dass man gerne entweder den Parlamentssprecher oder den Regierungschef stellen würde; bei Saairun heißt es indes, dass diese Entscheidung nur von den Kurden getroffen werden könne.

Und bis sich KDP und PUK geeinigt haben, ist die Regierungsbildung in Irak unmöglich. Denn zuvor muss das Parlament einen Sprecher wählen, der dann dem Parlament den Kandidaten für die Präsidentschaft empfiehlt. Und der Präsident muss dann einen Abgeordneten auf Empfehlung der größten Fraktion mit der Regierungsbildung beauftragen.

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