Die Stadt ist ein einziger Stau

Protest gegen die Gefahren des Straßenverkehrs in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka

  • Nick Kaiser, Dhaka
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Wort Moloch wäre als Beschreibung für Dhaka eine Untertreibung. Die Hauptstadt von Bangladesch ist ein einziger, riesiger Stau mit immerwährendem Hupkonzert. Wer hier von A nach B will, sollte sich für den Rest des Tages nichts mehr vornehmen. Es ist so schlimm, dass Tausende demonstrierende Jugendliche vor kurzem die Straßen blockierten. Und plötzlich lief der Verkehr besser.

»In Dhaka ist es sogar normal, dass ein Krankenwagen im Verkehr feststeckt«, sagt Caroline Roy, die für eine Marketingfirma arbeitet. Sie habe das schon mehrmals selbst erlebt, als ihre Mutter nach Schlaganfällen ins Krankenhaus musste. »Wir hätten unsere Mutter verloren, wenn mein Bruder nicht ausgestiegen wäre und die Leute dazu gekriegt hätte, den Weg freizumachen.«

Wenige der 160 Millionen Einwohner Bangladeschs haben einen Führerschein. Wenn man kontrolliert wird, zahlt man Schmiergeld. Fahrzeuge werden auch kaum auf Verkehrstauglichkeit geprüft. Eine Menge Unfälle sind die logische Folge. Einer Studie zufolge sterben jedes Jahr 12 000 Menschen bei Unfällen auf den Straßen des südasiatischen Landes.

Nachdem ein Bus Ende Juli in eine Haltestelle in Dhaka raste, zwei Schüler tötete und viele verletzte, hatten die jungen Bewohner der Stadt genug. Es folgte ein ungewöhnlicher Protest: Schüler und Studenten regelten den Verkehr und kontrollierten Papiere. Erst nach einer Woche war damit Schluss, als die Sicherheitskräfte mit Gewalt gegen die Demonstranten vorgingen.

Während der Proteste waren die Straßen ungewöhnlich leer, weil viele ohne Führerschein sich nicht hinter das Steuer trauten. So erlebte es Sarwar Jahan, emeritierter Professor für Stadtplanung und Co-Direktor des privaten Think Tanks Policy Research Institute. Es erinnerte ihn ein bisschen an seine Studentenzeit Anfang der 70er Jahre, als Dhaka nur eine halbe Million Einwohner hatte und er mit dem Fahrrad überall hinfuhr. »Es war eine sehr schöne Stadt mit viel Natur. Jetzt ist es ganz anders.«

Inzwischen leben mehr als 18 Millionen Menschen in Dhaka. Bis auf einige neue Überführungsstraßen ist die Infrastruktur so gut wie nicht angepasst worden. Jedes Jahr kommen rund eine halbe Million Binnenmigranten hinzu - viele von ihnen Arbeitssuchende, die in Slums landen. 2030 wird Dhaka laut UNO voraussichtlich mit 27 Millionen Einwohnern die sechstgrößte Megastadt der Welt sein. Schon jetzt ist es die am dichtesten besiedelte Stadt der Welt. Pro Quadratkilometer leben hier etwa zehnmal so viele Bewohner wie in München, die deutsche Stadt mit der höchsten Bevölkerungsdichte.

Roy braucht für einen Arbeitsweg von acht Kilometern jeden Tag anderthalb Stunden, wie sie erzählt. Mehr als drei Millionen Arbeitsstunden gehen laut Weltbank wegen Staus jeden Tag in Dhaka verloren. Die Durchschnittsgeschwindigkeit des Straßenverkehrs sei innerhalb von zehn Jahren von 21 km/h auf sieben gesunken - kaum schneller als ein Fußgänger. »Jeden Tag im Stau zu stehen, schlägt sich auf Körper und Geist nieder«, sagt Roy. Es beeinträchtige auch das Privatleben. »Wir gehen kaum noch vor die Tür«, erzählt Jahan. »Nur wenn es ganz dringend ist oder an Nationalfeiertagen.«

Kürzlich kürte die Zeitschrift »The Economist« in ihrer jährlichen Rangliste Wien zur lebenswertesten Stadt der Welt. Auf dem vorletzten Platz - vor Damaskus - landete Dhaka.

Eine typische Szene an einer Kreuzung sieht so aus: Aus allen Richtungen drängen Fahrzeuge in jede sich bietende Lücke. Fußgänger versuchen, sich zwischen Stoßstangen zu überfüllten Bussen durchzuquetschen, aus deren offenen Türen junge Männer hängen. Frustrierte Verkehrspolizisten schlagen mit Holzstöcken gegen die Räder oder bunt bemalten Faltdächer von Fahrradrikschas, wenn diese stehen, obwohl ein paar Zentimeter Platz vor ihnen ist. Ampeln und Gehwege gibt es kaum.

Die verstopften Straßen bieten manchen Chancen. Fliegende Händler bieten Waren feil und auch Diebe wittern leichte Beute bei festsitzenden Opfern. Deshalb haben die Autorikschas - grüne, motorisierte Dreirad-Taxis, die normalerweise zur Seite hin offen sind - inzwischen Türen. Sie teilen sich die Straßen mit Autos, Bussen, Mopeds, Motorrädern, Fahrrädern, Fahrradrikschas und Handkarren. Das einzige öffentliche Verkehrsmittel sind die uralten Busse, die allerdings in Privathand sind. Eine U-Bahnlinie wird gerade gebaut.

»Es muss ein multimodales Transportsystem her - auf Wasserwegen, Schienen und Straßen«, betont Jahan. »Vor zehn Jahren wäre das noch einfacher gewesen. Je mehr Zeit vergeht und je mehr Menschen in der Stadt leben, umso schwieriger wird es.« Weil die Regierung nicht auf Experten höre und keine Anstalten mache, einen sinnvollen Plan zu entwickeln, sei er pessimistisch. »Irgendwann bewegt sich der Verkehr gar nicht mehr.« Der Schülerprotest werde nicht das letzte Mal gewesen sein, dass sich die Wut der Menschen auf verstopften Straßen entlade. dpa/nd

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