Nexperia-Krise traf Europa unvorbereitet

Ökonomin kritisiert Naivität der EU und fordert mehr Kontrollinstrumente für Direktinvestitionen

Der Mitarbeiter eines Chip-Herstellers hält einen Rohling (Wafer). Jene von Nexperia kommen aus Deutschland und Großbritannien, die finale Abfertigung der Halbleiter findet fast ausschließlich in China statt.
Der Mitarbeiter eines Chip-Herstellers hält einen Rohling (Wafer). Jene von Nexperia kommen aus Deutschland und Großbritannien, die finale Abfertigung der Halbleiter findet fast ausschließlich in China statt.

Der Staub, der von einem diplomatischen Beben Ende September 2025 aus Den Haag aufgewirbelt wurde, hat sich noch nicht ganz gelegt. Ohne Vorwarnung aktivierte der niederländische Wirtschaftsminister Vincent Karremans ein Gesetz aus dem Jahr 1952, das »Gesetz zur Verfügbarkeit von Gütern«. Sein Ziel: Nexperia, den ehemaligen Philips-Ableger und weltgrößten Hersteller von Standard-Chips aus Nijmegen, unter staatliche Kontrolle zu bringen. Das Unternehmen gehört seit 2019 dem chinesischen Tech-Giganten Wingtech.

Die Begründung des Ministers war dramatisch: »Akute Signale schwerwiegender Governance-Mängel« bedrohten die nationale Sicherheit. Konkret fürchtete Karremans, der chinesische CEO Zhang Xuezheng wolle das Unternehmen aushöhlen: Patente und Produktionsmittel sollten schon bald nach China gebracht werden.

Für Alicia García-Herrero, Senior Fellow beim Think Tank Bruegel und Chefökonomin bei der Investitionsbank der französischen Sparkassen, Natixis, war der Schritt überfällig. Sie ordnet die Hintergründe aus Hongkong im Gespräch mit »nd« ein: »Wingtech profitierte lange, weil Nexperia nicht auf der US-Sanktionsliste stand.« Als die USA jedoch planten, diese Lücke zu schließen, habe sich das Kalkül schlagartig geändert. García-Herrero weiß: »In dem Moment, als sie verstanden, dass dieser Vorteil wegfallen würde, entschieden sie sofort, die Produktion zu verlagern.«

Parallel zur politischen Notbremse spielte sich formal unabhängig davon ein juristisches Drama ab. Neben dem ministeriellen Eingriff setzte die Unternehmenskammer des Gerichts in Amsterdam Nexperia-Chef Xuezheng ab. Der Richter entzog so dem chinesischen Eigentümer faktisch die Kontrolle. Auslöser war eine Klage vom lokalen Management, das »rücksichtsloses« Verhalten des chinesischen CEO anprangerte.

Die Niederlande und die EU waren auf die neue geopolitische Konfliktsituation zwischen den USA und der Volksrepublik schlicht nicht gut vorbereitet.

Für die staatliche Maßnahme musste sich Minister Karremans Anfang Dezember im Parlament ungemütlichen Fragen der Opposition stellen. Der Abgeordnete Tom van der Lee (GroenLinks-PvdA) warf ihm vor, »zu dreist und unbesonnen« gehandelt und mit einem »obskuren Kriegsgesetz« eine diplomatische Krise provoziert zu haben.

Unmittelbar nach dem Eingriff verhängte China ein sofortiges Exportverbot für Nexperia-Chips. Die Rohlinge (Wafer) kommen zwar aus Deutschland und Großbritannien, doch die finale Abfertigung der Halbleiter findet fast ausschließlich in China statt. In der Automobilindustrie drohten für kurze Zeit größere Produktionsstopps. In einem Auto stecken bis zu 600 dieser einfachen, aber unverzichtbaren »Legacy-Chips«.

Im Parlament verteidigte Minister Karremans sein Vorgehen vehement. Er habe nicht auf ein Gerichtsurteil warten können, beteuerte er. Die Gefahr sei akut gewesen. Hätte er nicht eingegriffen, so seine Logik, wären Patente und Maschinen schon außer Landes gewesen.

Der aufgewirbelte Staub begann sich erst Mitte November zu legen, als das staatliche Dekret ausgesetzt wurde, nachdem China die Exportfesseln etwas gelockert hatte. Die diplomatischen Verhandlungen zwischen den Niederlanden und China dauern bis heute an. Zuletzt hat die Regierung der Volksrepublik die Namen einiger Mitarbeiter der niederländischen Geheimdienste AIVD und MIVD veröffentlicht, wie die Tageszeitung »Volkskrant« berichtet. Auf eine »nd«-Anfrage zum Stand der Gespräche äußerte sich das Ministerium bis Redaktionsschluss nicht.

Für die Chefökonomin García-Herrero offenbart der Fall eine tieferliegende Schwäche der europäischen Strategie: Die Niederlande und die EU waren auf die neue geopolitische Konfliktsituation zwischen den USA und der Volksrepublik schlicht nicht gut vorbereitet. »Die chinesische Regierung hat bewiesen, dass sie bereit ist, die Produktion eines Unternehmens in Europa sofort zu erdrosseln.«

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Es sei naiv gewesen, chinesische Investitionen als rein marktwirtschaftlich getrieben zu sehen. »Das ursprüngliche Verständnis war, dass die Produktion in Europa bleibt. Aber als sich die geopolitischen Bedingungen änderten, änderte sich auch das Investitionskalkül.« Europa habe darauf zu spät reagiert.

Was bleibt von der Nexperia-Krise? Die Erkenntnis, dass wirtschaftliche Abhängigkeit in Zeiten geopolitischer Spannungen zur Waffe wird. Die Lösung, so Alicia García-Herrero, sei schmerzhaft: Europa brauche ein eigenes, koordiniertes Äquivalent zum amerikanischen Committee on Foreign Investment in the United States mit echten Durchgriffsrechten. »Wir haben derzeit keine Instrumente« – aus ihrer Sicht ein klarer Auftrag für Brüssel.

Bis dahin ist die niederländische Regierung im weiter schwelenden Konflikt mit Peking vorerst auf sich allein gestellt. Karremans will noch im Dezember nach China reisen, um die Lage zu beruhigen, nachdem ein erstes geplantes Treffen aufgrund von Schwierigkeiten bei der Terminabsprache ausgefallen ist.

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