• Kultur
  • Buchmesse Frankfurt am Main

Epos menschlichen Leidens

Das »Blockadebuch. Leningrad 1941-1944« erstmals ungekürzt

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Daniil Granin, einer der Herausgeber des »Blockadebuchs«, schreibt in einer Vorbemerkung, das Werk entspreche »nicht dem pathetischen Bild, das in der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges festgeschrieben war«. Dieses in der offiziellen Rhetorik verankerte Bild von der heldenhaften Verteidigung Leningrads machte es dem weißrussischen Schriftsteller Ales Adamowitsch und dem Leningrader Granin Mitte der 1970er Jahre sehr schwer, die gnadenlose Wahrheit über die Leiden der Bewohner der belagerten Stadt zu ergründen und mit schonungsloser Offenheit darzustellen: »Die Blockade war ein Epos menschlichen Leidens. Das war nicht die Geschichte von neunhundert Tagen voller Heldentaten, sondern von neunhundert Tagen voller unerträglicher Qualen.«

Ales Adamowitsch/ Daniil Granin: Blockadebuch. Leningrad 1941-1944.
A. d. Russ. v. Ruprecht Willnow u. Helmut Ettinger. M. 51 Abb. u. e. Vorwort v. Ingo Schulze. Aufbau Verlag. 703 S., geb., 36 €.

Schon die »Leningrader Affäre« hatte 1949/52 dazu geführt, dass jede kritische Darstellung der Blockade untersagt wurde. Nachdem die Leningrader Parteiführung auf Grund konstruierter Anschuldigungen abgelöst und zum großen Teil physisch liquidiert worden war, wurden alle Publikationen aus dem Verkehr gezogen, in denen die Belagerung nicht im Geiste des Stalinkults dargestellt wurde. Das betraf unter anderem auch die aufwühlenden Tagebücher und Rundfunkansprachen der Dichterin Olga Bergholz sowie Werke von Vera Inber und Gennadij Gor. Der Bann, der auf dem Thema der »dunklen Seiten« der Blockade lag, traf auch Adamowitsch und Granin.

Das war im April 1975. Wie im Band »Ich komme aus einem verbrannten Dorf«, den Adamowitsch mit zwei weiteren Kollegen über die Massaker von Chatyn und anderen weißrussischen Orten verfasst hatte, befragten die beiden Autoren Augenzeugen der Blockade, hörten ihre Geschichten an, zeichneten sie auf Tonband auf, lasen Dokumente, Tagebücher, Briefe, Gedichte, Erinnerungsberichte. Die Faktenfülle drohte sie zu ersticken. Schließlich fanden sie die Leitidee für das Buch darin, die Grenzen des Menschen und seiner Leidensfähigkeit aufzuzeigen und die »innere Kultur« der Leningrader sichtbar zu machen.

Leningrad wurde vom 8. September 1941 bis 27. Januar 1944 belagert. In einer geheimen Direktive der Wehrmacht vom 22. 9. 1941 hieß es, Hitler habe beschlossen, die Stadt »vom Antlitz der Erde zu tilgen«, ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils der Bevölkerung dieser Stadt bestehe nicht. Etwa 1,1 Millionen Leningrader verloren in dieser Zeit ihr Leben, die meisten von ihnen verhungerten. Adamowitsch und Granin erzählen nicht darüber, vielmehr reproduzieren sie eine Vielzahl von Stimmen, lassen Hunderte von Überlebenden sprechen, die sich mühevoll an die schrecklichen Monate der Blockade erinnern, sich teilweise nur zögernd offenbaren, manches am liebsten verschweigen würden. Ihre Hauptthemen sind Hunger, Kälte und Tod. Die Kommentare und Wertungen der beiden Schriftsteller wirken abwägend und zurückhaltend.

Die Leningrader Zeitschriften und Verlage wiesen das fertige Manuskript bis in die Zeit der Perestroika zurück. Die Moskauer »Nowy mir« druckte 1979 und 1981 eine Textversion, auch wenn die Zensur zahlreiche Streichungen verlangte (Plünderungen, Manipulationen mit Lebensmittelkarten und Fälle von Kannibalismus durften nicht vorkommen). Unvollständig blieb auch die Übersetzung von Ruprecht Willnow bei Volk & Welt.

Hier erschien 1984 zuerst der zweite Teil. Er ist stärker strukturiert, wird von einem längeren Kommentar Granins über die Volkswehr eingeleitet und konzentriert sich dann auf die Tagebücher des Historikers Georgi Knjasew, des Schülers Jura Rjabinkin und der jungen Mutter Lidia Ochapkina. 1987 brachte Volk & Welt beide Teile in der Übersetzung Willnows heraus.

2014 konnte in Petersburg erstmals eine vollständige Ausgabe des »Blockadebuchs« erscheinen, auf die die jetzt vorliegende deutsche Edition zurückgreift. Gegen hartnäckige Widerstände gelang es Granin, den Abdruck von zwei neuen Kapiteln durchzusetzen, die den »Hungerkannibalismus« und die »Leningrader Affäre« beleuchten. Sie gehören nach seinen Worten zum dem »Bedrückendsten und Entsetzlichsten«, das er je veröffentlicht hat. Diese beiden Kapitel hat Helmut Ettinger übersetzt, der auch das gesamte Werk durchgesehen und mit erklärenden Fußnoten versehen hat.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!