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  • Präsidentschaftswahlein in Brasilien

Demokratie oder Barbarei

Die Arbeiterpartei in Brasilien kann die Präsidentenwahl noch gewinnen, meint Gerhard Dilger

  • Gerhard Dilger
  • Lesedauer: 3 Min.

18 Tage sind noch Zeit. Zeit, um eine Präsidentschaft von Jair Messias Bolsonaro und eine Wende hin zum Rechtsextremismus zu verhindern, wie sie Lateinamerika seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat. Im ersten Wahlgang am Sonntag hatte der rechtsextreme Kandidat 46 Prozent der gültigen Stimmen geholt. In den kommenden 18 Tagen wird die gemäßigte Linke mit Fernando Haddad an der Spitze versuchen, Millionen von Wähler*innen zurückzugewinnen, die die sozialdemokratische Arbeiterpartei PT in den letzten Jahren verloren hat. Er muss in aller Klarheit jene Alternative herausarbeiten, um die es in der Stichwahl gehen wird: Demokratie oder Barbarei.

Das langjährige Narrativ der bürgerlichen Rechten, das Bolsonaro in den letzten Wochen zugespitzt und geschickt auf seine Mühlen umgeleitet hat, geht etwa so: Die Arbeiterpartei, ihre wegen Bestechlichkeit weggesperrte Führungsfigur Lula und dessen vor zwei Jahren des Amts enthobene Nachfolgerin Dilma Rousseff hätten Brasilien zugrunde gerichtet. Vettern- und Misswirtschaft, Korruption, Werteverfall, die Folgen einer mehrjährigen Rezession mit zerfallenden öffentlichen Schulen und Krankenhäusern sowie millionenfacher Arbeitslosigkeit: An all dem sei nur die PT schuld. Bei ihrer Rückkehr drohten venezolanische Verhältnisse.

In Wirklichkeit gab es eine Hexenjagd auf Lula und einen Parlamentsputsch gegen Rousseff. Vieles spricht dafür, dass Brasiliens - und Lateinamerikas - neue Rechte vor allem die Errungenschaften der rosaroten Regierungen des vorigen Jahrzehntes bekämpft: den sozialen Aufstieg von Millionen vormals Armen, das neue Selbstbewusstsein von Frauen, Schwarzen oder Indigenen. Schon der illegitime Übergangspräsident Michel Temer hat den Abbau von Arbeiterrechten und des Sozialstaats in Angriff genommen. Mit einer absoluten Mehrheit für Bolsonaro würde sich dies zu einem regelrechten Krieg gegen die Armen ausweiten.

Der oft noch verharmlosend als »Rechtspopulist« oder »Tropen-Trump« bezeichnete Kandidat, ein Bewunderer der zivil-militärischen Diktatur von 1964 bis 1985, bekam am Sonntag fast 50 Millionen Stimmen - und 68 Prozent davon kommen aus dem wohlhabenderen Süden und Südwesten.

Schon in der Woche vor der Wahl übten viele etablierte Abgeordnete, etwa Agrarlobbyisten, Evangelikale oder Waffenhändler, den Schulterschluss mit ihrem neuen Führer und seiner vormaligen »sozial-liberalen« Minipartei PSL, die nun nach der Arbeiterpartei die zweitgrößte Fraktion stellt. Auch in den beiden Bundesparlamenten, bei den Gouverneuren und in den Länderparlamenten verlor die Linke weiter an Boden.

Andererseits erzielten Mitglieder der Schwarzen- und Frauenbewegung, viele davon in der Linkspartei PSOL organisiert, Achtungserfolge. Die meisten von Präsident Temers Ministern und Senatoren wurden an den Urnen abgestraft. Die großen Verlierer der Polarisierung zwischen Bolsonaro und der PT sind die bürgerlichen Traditionsparteien, allen voran die rechtsliberalen »Sozialdemokraten« der PSDB. Schließlich blieben fast 30 Millionen Brasilianer*innen trotz Wahlpflicht den Urnen fern, weitere 10 Millionen stimmten »ungültig«.

Der erfahrene Drittplatzierte, Lulas Ex-Minister Ciro Gomes, hat wie Guilherme Boulos von der PSOL bereits Haddad seine Unterstützung zugesagt. Auch die von Frauen angeführten Massenproteste gegen Bolsonaro, die zuletzt Hunderttausende auf die Straßen brachten, werden weitergehen.

Die neue Front wird nun zwischen Brasiliens überzeugten und noch zu überzeugenden Demokrat*innen und dem rassistischen, homophoben Frauenverächter Bolsonaro verlaufen. An der Spitze eines breiten linksliberalen Bündnisses hat Fernando Haddad durchaus das Zeug, durch einen sachlichen Wahlkampf gegen die Hassprediger von rechts weit ins bürgerlich-liberale Zentrum hineinzuwirken. Er muss viele PT-Skeptiker*innen aus der Mittelschicht (zurück-)gewinnen, aber auch aus den Armenvierteln, wo mittlerweile konservative Pfingstkirchler den Ton angeben, ohne die Dauerpolarisierung der letzten vier Jahren noch zu vertiefen. Dem vormals erfolgreichen Bildungsminister und kompromissbereiten Bürgermeister São Paulos ist das durchaus zuzutrauen. So könnte die Arbeiterpartei doch noch ihren fünften Wahlsieg in Folge einfahren - und einen faschistischen Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts verhindern.

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