Der Arzt ist weg, die Bank sowieso

Hessen: Erst zur Wahl hat die Regierung die Probleme des ländlichen Raums entdeckt

  • Hans-Gerd Öfinger, Wiesbaden
  • Lesedauer: 4 Min.

In der heißen Phase des hessischen Landtagswahlkampfes rücken auch die speziellen Probleme des ländlichen Raums in den Fokus, der mehr als 80 Prozent der Landesfläche ausmacht. Derzeit lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung im Sechs-Millionen-Land jenseits der größeren Städte. Bevölkerungsschwund, Abwanderung in die Ballungsgebiete und schrumpfende Infrastruktur sind nicht nur in östlichen Bundesländern, sondern auch in weiten Teilen Hessens in großes Problem. Die Opposition wirft der schwarz-grünen Regierungskoaltion in Wiesbaden vor, mit ihrer Kürzungspolitik den ländlichen Raum vernachlässigt zu haben. Am 28. Oktober wird in Hessen ein neuer Landtag gewählt.

Ein besonders großes Bevölkerungsminus wird den Landkreisen Vogelsberg, Hersfeld-Rotenburg, Schwalm-Eder und Waldeck-Frankenberg prognostiziert. Dem nordöstlichen, an der Grenze zu Thüringen und Niedersachsen gelegenen Werra-Meißner-Kreis sagt die landeseigene Hessen-Agentur bis 2050 gar einen Bevölkerungsrückgang von über 40 Prozent voraus. Demgegenüber kann sich das südhessische Darmstadt auf ein Plus von zehn Prozent einstellen.

Wenn die Heimatregion nicht mehr genügend Arbeit bietet, ziehen die Jüngeren weg - so etwa in das Rhein-Main-Gebiet. Wer aber nicht die Zelte abbrechen will, nimmt oftmals lange tägliche Wege mit Auto oder Bahn in Kauf. Frühmorgens sind etwa die ICE-Züge, die in anderthalb Stunden von Kassel nach Frankfurt am Main brausen, brechend voll mit Pendlern.

Während im Rhein-Main-Ballungsraum bezahlbare Wohnungen rar sind, beklagt man in ländlichen nordhessischen Kommunen ganz andere Probleme. Wer im eigenen Häuschen günstig wohnt, sieht sich oftmals mit hohen Forderungen seiner finanzschwachen Kommune konfrontiert, die die Kosten für den Straßenausbau auf immer weniger Anwohner umlegt. In vielen kleineren Ortschaften hält die Schließung von Arztpraxen, Gasthäusern, Läden, Postagenturen und Sparkassenfilialen an. Bankautomaten werden abmontiert, Pflegedienste scheuen zunehmend lange Anfahrtswege. Wer solche Regionen bereist, hat oftmals über viele Kilometer keinen Mobilfunk- oder Internetanschluss. Privaten Anbietern erscheint eine flächendeckende Versorgung nicht profitabel genug, was wiederum eine denkbar schlechte Voraussetzung für Gewerbeansiedlungen ist.

Als Schritt gegen den Ärztemangel auf dem Land hat die Kassenärztliche Vereinigung Hessen (KVH) mit der Deutschen Bahn jetzt einen sogenannten »Medibus« entwickelt. Die modern ausgestattete mobile Arztpraxis fährt Woche für Woche nordhessische Dörfer an und betreut vor allem ältere Patienten. »Die Inanspruchnahme ist sehr rege«, hieß es seitens der KVH.

Neuland bei der Sicherung der ärztlichen Versorgung hat auch Schwarzenborn (Schwalm-Eder-Kreis), die mit rund 1400 Einwohnern kleinste Stadt Hessens, betreten. Hier ging die örtliche Ärztin 2014 in den Ruhestand, eine Nachfolge für ihre Praxis fand sich nicht. Nun betreibt die Stadt in eigener Regie ein neues Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ), in dem ein Allgemeinmediziner und eine Gynäkologin als Angestellte der Kommune die Patienten behandeln. Weil eine städtische Angestellte Schriftverkehr und Abrechnung mit den Kassen erledigt, können sich die Mediziner voll auf ihren Beruf konzentrieren. Um Nachwuchskräfte für das MVZ zu interessieren, stehe die Kommune in Kontakt mit Universitäten in Marburg, Gießen und Göttingen, erklärte Bürgermeister Jürgen Liebermann (SPD). Für ihn ist das kommunale MVZ, das sich an ein ähnliches Modell im rheinland-pfälzischen Katzenelnbogen (Rhein-Lahn-Kreis) anlehnt, »auf jeden Fall ein Weg« gegen den Landarztmangel. Von der Landespolitik erwartet er, dass sie auch nach der Wahl »den ländlichen Raum im Auge behält«. Der Spitzenkandidat der oppositionellen SPD, Thorsten Schäfer-Gümbel, der 100 neue »Gemeindeschwester-Plus-Stellen« in Hessen schaffen will, besuchte im Rahmen seiner Sommerreise das MVZ. Einen Abstecher nach Schwarzenborn machte jüngst auch die Landtagsabgeordnete Marjana Schott von der LINKEN. Die Partei will ihren Platz im Landesparlament bei der Wahl am 28. Oktober ausbauen. Schott bescheinigt dem MVZ Modellcharakter und kritisiert, dass die Landesregierung »die Probleme auf dem Land erst kurz vor den Wahlen entdeckt« habe. Mit ihrer Kürzungspolitik habe die schwarz-grüne Koalition den ländlichen Raum vernachlässigt und durch Schwächung der Kommunen dazu beigetragen, dass der öffentliche Nahverkehr ausgedünnt sowie Schwimmbäder, Krankenhäuser und öffentliche Einrichtungen geschlossen wurden.

»Die Landesregierung schmückt sich damit, Stellen im ländlichen Raum geschaffen zu haben. Tatsächlich hat sie aber in der laufenden Legislaturperiode deutlich mehr Stellen aus dem ländlichen Raum abgezogen als sie jetzt schafft«, so Schott. Der ländliche Raum brauche »keine PR-Offensive und keine warmen Worte, sondern eine öffentliche Infrastruktur, Investitionen in Gesundheitsversorgung, Breitbandausbau und wohnortnahe Arbeitsplätze«, erklärte die Abgeordnete.

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