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Arbeitskräfte in der Ukraine dringend gesucht
In der Ukraine gibt es in vielen Unternehmen Personallücken
Hilflos blickt die Kellnerin den Gast an, der zum Tresen gekommen ist, weil er nicht mehr länger auf sein Bier warten möchte: »Ich weiß, ich habe Sie nicht vergessen. Aber ich bin wieder einmal alleine hier. Zwei unserer Kellner sind im Krieg, einer hat gekündigt, und wieder ein anderer ist ins Ausland. Seit Neuestem dürfen ja Männer bis 22 Jahren ausreisen«, sagt sie und sieht ihn genervt an. Die Szene, die sich dieser Tage in einem sehr beliebten Traditionsrestaurant im Zentrum von Kiew abgespielt hat, ist typisch für das Land: Dem Markt und der Wirtschaft fehlt es an Personal.
In der ukrainischen Wirtschaft sind sie beliebt, die jungen Männer unter 25 Jahren. Bei McDonalds kann man gar mit 16 Jahren einen Job bekommen. Ihr Vorteil: Männer unter 25 müssen nicht in den Krieg. Und so braucht sich ein Arbeitgeber bei dieser Gruppe keine Sorgen machen, dass sich die Männer vor der Wehrbehörde TZK verstecken oder aber plötzlich in den Krieg eingezogen werden. Doch Ende August haben sich andere Vorschriften geändert: War es bis dahin Männern zwischen 18 und 60 verboten, ins Ausland zu reisen, dürfen nun nach der neuen Regelung Männer bis zur Vollendung des 22. Jahres ins Ausland aufbrechen. Und viele machen davon Gebrauch, nehmen oftmals auch gleich ihre Freundinnen mit und gehen so dem ukrainischen Arbeitsmarkt verloren.
Doch auch wenn diese Neuregelung nicht gekommen wäre: Dem ukrainischen Arbeitsmarkt mangelt es an Arbeitskräften. »Jede Woche kommen im Durchschnitt fünf Männer in Särgen in meine Heimatstadt zurück«, sagte eine Arzthelferin dem »nd«. Die Frau lebt in einer Stadt mit 100 000 Einwohnern. Kriegsbedingt ist ein großer Teil der Bevölkerung geflohen. Allein in Deutschland leben aktuell 1 218 100 ukrainische Flüchtlinge, darunter eine halbe Million Männer und männliche Jugendliche und Kinder.
Gegenüber dem ukrainischen Dienst von »BBC« berichtet der 21-jährige Anton, dass 70 Prozent seiner Bekannten ausgereist seien oder eine Ausreise planten. Vor diesem Hintergrund wird in der ukrainischen Gesellschaft debattiert, ob es nicht sinnvoll sei, ausländische Arbeitskräfte, vorwiegend aus Asien und Afrika, anzuwerben. Bekanntester Befürworter dieser Bestrebungen ist Dmytro Kuleba, der von 2020 bis 2024 ukrainischer Außenminister war. Er hat vorgeschlagen, angesichts der häufigen Ausreise junger Männer im Alter von 18 bis 22 Jahren die Grenzen für Arbeitsmigranten aus Asien zu öffnen. Damit solle ein drohendes demografisches Ungleichgewicht im Land abgefedert werden.
Der Krieg verschärft die schwierige demografische Lage
In einem Interview mit Nowosti.Live erklärte Kuleba, dass die Ukraine bereits vor dem Krieg mit einer schwierigen demografischen Lage konfrontiert gewesen sei. Der Krieg habe diese nun dramatisch verschärft. Der Mangel an Männern im erwerbsfähigen Alter könne nach Kriegsende zu erheblichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen führen. Als mögliche Herkunftsländer künftiger Arbeitsmigranten nannte er Bangladesch, Nepal, Indien, die Philippinen und Vietnam.
Der Vorsitzende des parlamentarischen Finanzausschusses, Danylo Hetmantsev, reagierte kritisch auf Kulebas Vorschlag. Er bezeichnete die Idee, Arbeitskräfte aus Asien anzuwerben, als »nicht zweckmäßig« und warnte vor möglichen sozialen Spannungen. Hetmantsev betonte, dass die Priorität auf der Rückkehr ukrainischer Bürger liegen müsse, die das Land während des Krieges verlassen haben.
»Die können planen, was sie wollen«, meint ein Mann zu einer Verkäuferin auf dem Bessarabski Markt im Stadtzentrum. »Das wird nicht klappen. Warum sollten Bangladeschis herkommen, wenn sie hier auch nur maximal 500 Euro verdienen? Und hoch qualifizierte Bangladeschis, wie Ärzte und IT-Leute, gehen lieber gleich in wirtschaftlich besser aufgestellte Länder.« Hinzu käme noch das Sprachproblem. »Welche Inder oder Nepalesen sprechen schon ukrainisch?« Am ehesten könne er sich Arbeitskräfte aus den ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken vorstellen. Die würden alle Russisch sprechen. Und viele von ihnen seien doch kürzlich aus Russland abgeschoben worden. Und bei nieder qualifizierten Jobs reiche es, wenn man Russisch sprechen könne. »Und überhaupt«, fährt er fort: »Wenn der Krieg erst einmal vorbei ist, werden wir noch weniger Geld haben. So viel Geld, wie wir jetzt von anderen Staaten bekommen, werden wir nach dem Krieg nicht mehr bekommen«, ist er sich sicher. Und wenn man kein Geld habe, könne man auch keine Arbeitskräfte anwerben.
Vermittlung ausländischer Arbeitskräfte via Telegram
Doch während die einen die Zweckmäßigkeit der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte noch diskutieren, hat sich ein findiger Unternehmer schon der Vermittlung ausländischer Arbeitskräfte angenommen. Auf dem Telegram-Kanal von Andri Serebrjanski wendet sich ein namentlich nicht genannter Unternehmer per Video an Kollegen. Wer ausländische Arbeitskräfte suche, könne sich vertrauensvoll an ihn wenden, er organisiere alles, Vertrag, Auswahl der Fachkräfte, Arbeitsgenehmigung, Visum und Anreise. Er garantiere für die Qualität der von ihm vermittelten Arbeitskräfte aus Indien und Bangladesch.
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