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Das neue Prekariat wächst

Die Nationale Armutskonferenz stellt »Erwerbsarmut« in den Fokus

  • Alina Leimbach
  • Lesedauer: 3 Min.

Erst vor wenigen Tagen freute sich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD): »Die Zahl der Arbeitslosen ist im September im Vergleich zum Vorjahr um 192 000 auf 2,26 Millionen gesunken.« Positiv stimmte ihn auch auch die Entwicklung der Erwerbstätigkeit und der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung.

Doch trotz dieser vorgeblich guten Nachrichten ist das nur ein Teil der Geschichte: Die Zahl der Menschen, die arm trotz Arbeit sind, ist so hoch wie selten. In Deutschland hat sich der Anteil der sogenannten Working Poor in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Darauf wies die Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz (NAK), Barbara Eschen, am Mittwoch bei der Vorstellung des dritten »Schattenberichts Armut« hin. Es gebe »enormen Handlungsbedarf« bei der Bekämpfung von Erwerbsarmut.

So stieg laut der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung zwischen 2004 und 2014 der Anteil der Armen unter den Erwerbstätigen auf rund zehn Prozent. In keinem anderen EU-Land ist dieser Anteil demnach so stark gewachsen wie in Deutschland. Erwerbsarm zu sein meint, dass eine erwerbstätige Person in einem Haushalt mit einem verfügbaren Einkommen unterhalb der Armutsgrenze lebt. Arm ist dabei nicht statisch definiert. Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens eines Landes zur Verfügung hat, gilt allerdings als arm. »Rund eine Millionen Menschen beziehen derzeit Hartz IV, obwohl sie arbeiten«, kritisierte Eschen. Dazu kommt nach Schätzungen der NAK ein noch einmal höherer unsichtbarer Anteil derjenigen, die keine Grundsicherung beantragen. Sei es aus Scham oder aus Unkenntnis.

Insgesamt müssten die Grundsicherungsbeiträge deutlich angehoben und die Sanktionen restlos abgeschafft werden, fordert die Nationale Armutskonferenz. Doch um den »Teufelskreis von schlechter Arbeit, unzureichender sozialer Absicherung und wachsender Armut zu durchbrechen«, müsse man auch an das Thema Arbeitsbedingungen ran. Für die NAK heißt das: Die Mindestlöhne müssen steigen und prekäre Beschäftigung bekämpft werden. Dazu kommt, dass es überwiegend Frauen trifft, die zusätzlich zur Arbeit Grundsicherung erhalten. Ihr Armutsrisiko sei noch erheblich höher als das von Männern. Die Nationale Armutskonferenz, ein Bündnis aus Sozialverbänden und Gewerkschaft, spricht sich für eine Kindergrundsicherung und die Sanktionsfreiheit von Kindern aus.

Interessanterweise kommt auch von der UNO Rückenwind in dieser Frage. Deutschland hat sich schon 1973 verpflichtet, deren Sozialpakt umzusetzen. In den aktuellen Rückmeldungen zu den Ländern schreiben die Vereinten Nationen zu Deutschland: »Das Komitee ist über die große Anzahl von Menschen, die in verschiedensten Formen prekärer Arbeit beschäftigt sind, besorgt.« Sie empfiehlt daher ausgerechnet dem derzeit so wettbewerbsstarken und innovativen Deutschland, seine Anstrengungen »zu erhöhen«, angemessene Arbeit zu schaffen und atypischer Beschäftigung wie Minijobs, Zeit- oder Leiharbeit entgegen zu wirken. Diese Formen »atypischer Beschäftigung« wurden vor allem von der Regierung Gerhard Schröders (SPD) forciert.

Auch der Lohnexperte der Hans-Böckler-Stiftung, Torald Pusch, bekräftigt: »Deutschland hat einen nicht unerheblichen Niedriglohnsektor. Alle, die bis etwa zehn Euro pro Stunde verdienen, zählen dazu«, sagte Pusch gegenüber »nd«. Etwas mehr als jeder Fünfte in Deutschland befindet sich derzeit in einem solchen Beschäftigungsverhältnis. Ein Problem, nicht nur im hier und jetzt, sondern auch später im Alter. Denn wer schon im Berufsleben arm ist, der schlittert später direkt in die Altersarmut. Pusch empfiehlt daher, den Mindestlohn stärker als geplant anzuheben: »Es wäre sinnvoll, den Mindestlohn einmalig spürbar anzuheben und ihn danach wie geplant an die Lohnentwicklung anzupassen.«

Die Bundesregierung hat über die nächste Erhöhung des Mindestlohns noch nicht beraten. Sie muss die künftige Höhe des Mindestlohns per Verordnung umsetzen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sie der Empfehlung einer Kommission, bestehend aus Gewerkschaften und Arbeitgebern, folgt, die 9,19 Euro für 2019 und 9,35 Euro für 2020 vorgeschlagen hatte. Damit bliebe der Mindestlohn weiterhin unter der Niedriglohnschallschwelle.

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