Mephisto ist gestrichen

Enrico Lübbe dekonstruiert am Schauspiel Leipzig beide Teile des »Faust«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Analog war gestern, heute ist digital. Auch der »Faust«? Regisseur Enrico Lübbe und sein Dramaturg Thorsten Buß wagen am Schauspiel Leipzig die Aufhebung der linearen Zeit, auch der des geschriebenen Textes. Fortan wird es zu zentralen Frage, wo wir überhaupt sind. Ist das relevant für den Faust? Nicht für den ersten Teil der Tragödie, die Reise durch Fausts kleine Welt, von der Studierstube über Auerbachs Keller bis zum Brocken. Ein alternder Professor im Jugendwahn geht auf Reisen, da ist vorhersehbar, wohin es ihn zieht: zum jungen Weibe namens Gretchen, aber wie sie heißt, ist ihm eigentlich egal.

Doch an all dem zeigt sich diese Inszenierung wenig interessiert - auch nicht an Fausts quälender Suche nach etwas seine kümmerlich gekrümmte intellektuelle Existenz wieder Aufrichtendem: seiner Lebenskorrektur mit Hilfe so negativer Mächte wie Mephisto. Die erste verblüffende Entscheidung dieses Leipziger »Faust«: Mephisto ist gestrichen, einfach weg, Faust (Wenzel Banneyer) steht mit seinen Dialogen allein da - und versinkt fortan fast in der Unsichtbarkeit. Statt dessen mausert sich sein beflissener Schüler Wagner (Tilo Krügel) zur heimlichen Hauptperson und Ersatzteufel: der skrupellose Macher strebt zur Macht.

Dieser heimliche Teufel in Gestalt eines Kofferträgers des Fortschritts ist durchdringend banal. In gewisser Weise wird er hier bereits im Sinne Hannah Arendts als Inkarnation der Banalität des Bösen vorgestellt, einer, der sich nicht um die Folgen seines Tuns schert. Das alles scheinen diskussionswürdige Facetten, interessante Überlegungen - aber im Ganzen wirkt dieser Zugriff doch so, als habe man hier Goethe, bevor man überhaupt mit ihm anfing, allzu gründlich hinter sich gelassen. Man nimmt ihn nur noch als Motivgeber.

In zwei Stunden durchrennt Faust in diesem ersten Teil die »kleine Welt«, denn Regisseur und Dramaturg zieht es in die weite Welt des zweiten Teils, die wahrhaft unüberschaubar ist und sich keiner zeitlichen Ordnung mehr fügt. Da ist es gut, wenn man von Anfang an den digitalen Zugriff probt, gleichsam mit Fernbedienung in der Hand.

Also Tape 1: Ein Chor bevölkert die Bühne, jener Chor mit dem Lübbe bereits so erhellend Brechts »Maßnahme« und die Doppelinszenierung von »Die Schutzbefohlenen / Die Schutzflehenden« auf die Bühne brachte. Aber hier im »Faust« wirkt er wie ein Zerfallsprodukt, das manierierte Sprachübungen veranstaltet. Verdunkeln statt erhellen - und das, wo man den Text bereits über die Schmerzgrenze hinaus entkernt hat. So kreisen dann wenige Signalsätze in unterschiedlicher Betonung, in Silben zerlegt - Sprechübungen, die kunstvoll klingen, aber vor allem Verwirrung stiften. Wo sind wir in der ersten Szene? Bereits vor dem Osterspaziergang oder schon ganz am Ende des zweiten Teils, jedenfalls immer in Hörweite des Chors, der das Volk akustisch atomisiert?

Tape 2: So wie Faust zu schwach scheint, so Gretchen (Julia Preuß) zu stark. Sie donnert heran wie Frauenbeauftragte und Domina in Personalunion. Ein Weib zum Fürchten, aber wo hat sich Faust eigentlich versteckt? Irgendwo untergetaucht im Chor. In allen »Faust«-Inszenierungen der letzen fünfzehn Jahre hört man geradezu die Regieanweisung an Gretchen (Margarethe ab jetzt): sei stark! Das ist sicherlich ein guter Vorsatz und zweihundert Jahre Emanzipationsgeschichte haben sich auch an diesen gehalten - aber zu Goethes Geschichte einer benutzten jungen Frau, die schließlich zur verratenen Kindsmörderin wird - dabei dem eitel-feigen Kindsvater Professor Faust am Ende moralisch gerechtfertigt gegenüber tritt - trägt das wenig bei. Margarethe ist eben nur (wie wir alle) in ihrer Schwäche stark. Doch von Schwäche, von Verführbarkeit ohnehin, sieht man hier nichts. Zwischen Faust und Margarethe funkt es keinen Augenblick.

Das scheint dann auch das größte Manko dieses durchaus klug-analytischen und ästhetisch konsequenten Zugriffs, der das Stück über gegenwärtige Motive (vor allem im zweiten Teil) zu lesen versucht: er ist ganz ohne Eros. Diese Leipziger Faust-Welt ist erschreckend kalt, man spielt auch keine Tragödie (denn dazu bedürfte es ganzer Menschen, keiner Spielmarken), sondern bringt Konzepte zur Aufführung. Was zu dieser Lesart nicht passt, wird passend gemacht. Das großartige und in seiner Modernität nicht überbietbare Religionsgespräch etwa zwischen Margarethe und Faust, »Wie hältst du es mit der Religion?« wird anmoderiert, aber nicht ausgeführt - wie vieles andere in diesem ersten, sehr lieblos behandelten Teil.

Da hilft auch die kreisende Drehscheibe bei wechselnder Beleuchtung nicht, auch nicht, dass Julia Preuß, die stärker gezügelt eine hervorragende Margarethe sein könnte, an der fast senkrecht aufsteigenden Scheibe, an die sie sich klammert, Sätze herausschreit, in denen dann doch ein verzweifelter Schmerz mitklingt.

Der erste Teil aber scheint nicht viel mehr als ein Prolog zum zweiten. Doch bevor dieser beginnt, kommt Tape 3, ein halbstündiges Zwischenspiel, diesmal mit Puppen (drei Mal Goethe, unterschiedlich alt), die sich über den »Faust«-Stoff unterhalten. Worum geht es noch mal im »Faust«? Das kann man mit Eckermann bei einem Glas Wein didaktisch einleuchtend besprechen - und ist hier so witzig gespielt, dass sich das bereits teilweise irritiert von der Bühne abwendende Publikum sofort versöhnt zeigt.

Derart gestärt werden wir nun in drei Gruppen geteilt und zu Tape 4 bis unendlich in die dunkle Leipziger Nacht geschickt. Die große Welt des »Faust II« in den Grenzen der sächsischen Metropole. Die drei »Themen-Touren« heißen »Die Erfindung des Reichtums« (in der alten Handelsbörse), »Schöpfungsträume« (im historischen Anatomiehörsaal) und »Die Umsiedler« (im Völkerschlachtdenkmal). Ich wähle den Geld-Diskurs, bekomme einen Audio-Guide, der mich zu Fuß auf Umwegen durch die Stadt zur »alten Handelsbörse« lotst und dabei die verschiedenen Handelsplätze erklärt. Dass es mitten im Stadtzentrum - aus Platzgründen - bereits unterirdische Messestände gab, ist mir neu. Dann werden drei verschiedene Anlagemodelle erörtert (Immobilien, Kunst, Startup-Firmen), man will mich überreden, jenen 1-Billion-Geldschein (in »Pudel-Dollar«), mit dem wir losgeschickt wurden, bei ihnen anzulegen. Ich fühle mich wie Mark Twain, der über einen solchen Schein bekanntlich die ultimative Geschichte schrieb und würde an dieser Stelle gern den Audio-Guide stoppen, aus der Animation aussteigen, aber dann wüsste ich den Weg nicht mehr - und wer will schon ohne Richtungsvorgabe spätabends in Leipzig stehen?

In der alten Handelsbörse warten Experten, um über das Wesen des Geldes zu debattieren. Die Zuschauer - alle außer mir, dem Spielverderber - haben am Eingang ihre »Pudel-Dollar« in Aktien umgetauscht. Was das mit »Faust« zu tun hat? Sehr viel, denn im zweiten Teil, der Kaiserpfalz, wird bereits im großen Stile Papiergeld gedruckt, zwecks Ankurbelung der Konjunktur. Denn Geld muss arbeiten, solange, bis es verschwunden ist. Das ist sein Daseinszweck: Verschuldung provozieren, Risiko-Kapital attraktiv machen, das dynamische Element der Ökonomie sein.

Geld als Äquivalent ist bereits alt. Kaurischnecken in der Südsee, Gold und Silber zu allen Zeiten und überall. Geld sollte lange Zeit vor allem selten sein. Wachstum geht so aber nicht. Wachstum ist Spekulation auf Gewinn, Handel mit Schein, bezahlt in Scheinen. Die ersten, die Papiergeld massenhaft druckten, waren die Schweden, erfahre ich, kein Erfolgsmodell. Erst als das Papiergeld relativ sicher war (zuerst im Königreich Sachsen!), konnte man expandieren - mit ungewissem Ausgang, wie im »Faust II« beschrieben. Goethe, der Magier, war auch als Staatsmann und Ökonom ein Alchemist, der die Krisen kommen sah.

Als Ökonom ist Goethe unbedingt neu zu entdecken, bis hin zum wohl berühmtesten Monolog, dem Todestraum Fausts: »Ein Sumpf zieht am Gebirge hin, verpestet alles schon Errungene«. Diesen hören wir nun, von der Exkursion in den Bauch Leipzigs zurückgekehrt, gegen Mitternacht wieder von der Bühne des Schauspielhaues. Tatsächlich, die Dialektik des Fortschritts, die heftigen Verluste im unaufhörlichen Fortschreiten - im »Faust« sind sie bereits Thema.

Jedoch, dass der sterbende Faust sich so furchtbar verspekuliert, ist die Schuld Mephistos. Aber halt, dieser ist im Leipziger »Faust« gar nicht anwesend.

Nächste Vorstellungen: 20. und 21. Oktober (»Faust« I und II), 2. November und 1. Dezember, (»Faust« I)

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