Armut und Reichtum verfestigen sich

Armutsquote seit den 1990er Jahren um sechs Prozentpunkte gestiegen / Mehr Menschen dauerhaft arm

  • Alina Leimbach
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Tag der Deutschen Einheit wollte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) den Deutschen Ermutigendes Mitgeben: »Niemals in unserer Geschichte haben wir Deutsche über eine so lange Zeit in Frieden, Freiheit und – zumindest statistisch – in wachsendem Wohlstand gelebt.« Er wies anschließend darauf hin, dass die Deutschen ja wohl ungerechtfertigter Weise pessimistisch in die Zukunft blickten, denn die Mehrheit würde ja denken, dass es uns so »gute geht, wie noch nie zuvor«.

Doch eine neue Studie des gewerkschaftsnahen Wirschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung kommt zu anderen Ergebnissen. Die Einkommen in Deutschland haben laut dem »WSI Verteilungsbericht 2018« in den vergangenen Jahren polarisiert - und das auf zwei Ebenen. Zum einen ist die Gruppe der mittleren Einkommen geschrumpft, weil der Anteil der Haushalte unter der Armutsgrenze deutlich und der über der statistischen Reichtumsgrenze etwas zugenommen hat. Zum anderen haben sich Armut und Reichtum verfestigt. Das lässt sich daran ablesen, dass mehr Haushalte über mindestens fünf Jahre hinweg einkommensarm beziehungsweise einkommensreich sind, wobei die Tendenz bei armen Haushalten erneut deutlich ausgeprägter ist.

Insgesamt zeigt der Bericht einen deutlichen Anstieg der Armutsquote seit Beginn der 1990er Jahre. Diese ist bei 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens in Deutschland angelegt. Seit dem Beginn der 1990er Jahre ist der Anteil der Armen um fast sechs Prozentpunkte auf 16,8 Prozent in 2015 gestiegen. 1991 lag die Armutsquote noch bei 11,91 Prozent. Bis 1998 war die Armut sogar leicht rückläufig und erreichte in jenem Jahr mit etwas über 10,5 Prozent den niedrigsten Wert der untersuchten Jahre. Seither steigt sie jedoch fast kontinuierlich an.

Insbesondere in den Jahren seit 2010 nimmt die Zahl der von Armut betroffenen Haushalte deutlich zu – und das ungeachtet der sehr guten konjunkturellen Lage dieser Jahre, ist in der Studie weiter zu lesen. Vor allem der Anteil derer, die dauerhaft arm sind, wächst. Waren Anfang der 1990er Jahre 3,10 Prozent länger als fünf Jahre arm, hat sich deren Anteil bis 2015 auf 5,40 Prozent fast verdoppelt .

Der Anteil der Einkommensreichen hat seit 1991 hingegen zugenommen. Waren im Ausgangsjahr knapp 5,6 Prozent der Haushalte reich, verdienten also doppelt soviel im Jahr wie ein mittlerer Haushalt, stieg deren Anteil auf 7,46 Prozent in 2015 . Im Jahr 2014 erreichte der Anteil der reichen Haushalte mit fast 8,3 Prozent seinen bisherigen Höchststand.

Neben den Phänomenen der sich verfestigender Armut und Reichtum weist die Untersuchung auf zwei weitere Ergebnisse hin: nämlich darauf, dass diese Faktoren auch mit Geschlecht und Region variieren. Dauerhafte Armut kommt in Ostdeutschland etwa sechs Mal so häufig vor wie in den alten Bundesländern. Westdeutsche Männer haben am häufigsten ein dauerhaft hohes Einkommen: Etwa zwei Drittel der Wohlhabenden sind männlich, insgesamt leben 95 Prozent der Einkommensreichen in den alten Bundesländern. Bildung und Vollzeiterwerbstätigkeit sind wesentliche Faktoren, um Armut zu vermeiden und ein höheres Einkommen zu erzielen. Daher müssen soziale Hürden beim Bildungszugang abgebaut und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert werden.

Das Einkommen, das einer Person zur Verfügung steht, ist maßgeblich dafür, inwieweit diese Person an der Gesellschaft teilhaben kann, betont Studienautorin Dorothee Spannagel. Es mache einen großen Unterschied, ob jemand nur vorübergehend arm ist oder ob er oder sie sich dauerhaft mit Armut abfinden muss. Und wer sich umgekehrt seines Einkommensreichtums sicher ist, geht anders damit um als jemand, der befürchtet, diesen zu verlieren und sozial abzusteigen, schreibt Spannagel.

Die Stabilität der Gesellschaft habe ihr Fundament im »Gründungsversprechen der deutschen Demokratie, dass sich jede und jeder Kraft eigener Leistung, flankiert von sozial- und bildungspolitischen Maßnahmen, einen Platz in der Mitte der Gesellschaft sichern kann«, so die WSI-Verteilungsexpertin. Doch die Realität sehe anders aus. »Nicht nur geht die Einkommensschere auf, auch die Lebenswelten von Armen, Mittelschicht und Reichen fallen immer weiter auseinander«, warnt die Forscherin. Dieser Prozess beschleunige sich, wenn die soziale Mobilität weiter sinke, weil auf die Dauer beispielsweise die soziale Mischung von Wohnvierteln abnehme. »Nur, wenn es gelingt, verfestigte Armut aufzubrechen und zu verhindern, dass sich die Reichen von der Gesellschaft absetzen, gelingt es auch, jene gut integrierte gesellschaftliche Mitte zu erhalten und zu stärken, auf der die Stabilität unserer Demokratie beruht«, betont Spannagel.

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