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Der Butler und der Tigerkopf
Velten Schäfer verliest eine Nichtmeldung zur Klassenstruktur
Pünktlich zum Erscheinen dieser Seiten flattert sie in den Postkasten, die aktuelle Mitteilung des Statistischen Bundesamts zu Wiesbaden: Was aus unseren Kindern wird, hängt - Achtung, jetzt kommt es - »immer noch entscheidend« von ihrer »sozialen Herkunft« ab. So »steigen die Chancen von Kindern auf hohe Bildungsabschlüsse, wenn die Eltern selbst einen hohen Bildungsstand haben«, während »Kinder aus Elternhäusern mit niedrigerem sozioökonomischem Status« zudem über »schlechtere Chancen, gesund aufzuwachsen« verfügen. Und, halten Sie sich fest, es stagniert »trotz guter Wirtschaftslage (...) der Anteil der armutsgefährdeten Kinder«!
Es verhält sich mit dieser Nachricht ungefähr so wie mit dem Tigerkopf in dem dreiviertelkomischen Silvestersketch »Dinner for one«: Obwohl der treue Butler, der darin für seine alte, einsame Lady ein Jahresbankett inszeniert, ja eigentlich im Schlaf wie im Vollrausch durch den Saal navigieren kann, stolpert er doch bei jedem Vorbeigehen über jenes Hindernis, das an einer Stelle auf dem Fußboden lauert: Alle wissen es, aber niemand kann es sich merken. Und Veränderungen der diesbezüglichen Routinen gibt es schon gar nicht.
Stattdessen versandet diese wie die Dutzenden ähnlichen Meldungen, die mindestens im Zweiwochenrhythmus auftreten, irgendwo in den Kurznachrichten und im Kurzzeitgedächtnis. Bis, wenn es gut läuft, eine Talkshow ansteht: »Deutschland geht es gut - woher die gefühlte Unzufriedenheit«? Und selbst die gesellschaftliche Linke scheint sich zuweilen, um auf den Sketch zurückzukommen, mehr über das gemeuchelte Raubtier auf dem Fußboden zu ereifern als über die offenbar mangelhafte Arbeitsplatzsicherheit für jenen Haushaltsgehilfen - der ob seines fortgeschrittenen Alters längst im Ruhestand sein sollte.
Nichts ist so hartnäckig und erstaunlich wie eingeschliffene Denkroutinen. Warum übersetzt sich jenes theoretische Wissen um die Hermetik der Klassengesellschaft, das sich fast wöchentlich in all jenen Studien niederschlägt, partout nicht in allgemeines Bewusstsein? Vielleicht, weil es an Emotionen fehlt. Solche freizusetzen hat sich jetzt ein »Hashtag« im Internet vorgenommen.
Die Ursachen dieser brutalen Ordnung werden damit zwar ganz sicher nicht angegangen. Aber vielleicht führt diese Sammlung von Anekdoten aus dem Leben da unten zu einem heilsamen Moment der Irritation. So wie ja auch die Szene, in der jener Butler ausnahmsweise unfallfrei am Tigerkopf vorbeikommt und dann darüber erschrickt, nicht zu stolpern, zu den besseren Pointen jenes Sketchs gehört.
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