Mit dem Strom stimmt etwas nicht

Sieben Tage, sieben Nächte über Flüsse und wo sie hinführen

Amazonas, Nil, Mississippi, Wolga - Ströme wecken eigentlich positive Assoziationen. Sie sind mächtig, ruhig, kraftvoll. Sie bieten den Menschen Nahrung, Energie, Transportwege. Man kann sich treiben lassen.

»Der törichte Schwimmer strebt dem Wasser entgegen«, schrieb der römische Dichter Ovid. Heute hat das »Schwimmen gegen den Strom« einen guten Ruf. Wer dies tut, der gilt als unangepasst und autonom, der macht es sich nicht leicht, ist Rebell und kein Mitmacher. Etwas Besonderes. Break the rules. Die Individualität - eigentlich die selbstverständliche Eigenschaft jedes Individuums, von seiner Umwelt unterschieden zu sein - wird hier eigens betont im »Gegen«.

Das demonstrative Anderssein ergibt Sinn in einer Gesellschaft, die auf Konkurrenz aufbaut und in der Waren wie Menschen ein Alleinstellungsmerkmal behaupten müssen. Es zählt, was Marketingexperten »USP« nennen, die Unique Selling Position. Denn nur wer hervorsticht, wird gewählt. Besser mit dem Strom zu schwimmen, diese Weisheit gilt heute nur noch an der Börse: The trend is your friend.

Sich gegen die Fließrichtung zu stemmen, ist allerdings mehr als bloße Mode oder pubertäre Attitüde. Der gute Ruf dieser Tätigkeit sagt auch etwas darüber aus, wie die Menschen die Umstände, in denen sie leben, bewerten. Ganz offensichtlich stimmt mit dem Strom etwas nicht. Er wird als mächtige Kraft erlebt, die in die falsche Richtung drängt. Das Individuum fühlt sich nicht nur fremd-, sondern auch schlecht bestimmt.

Der heutige Diskurs ist reich an Strömen: Die Globalisierung ist einer, andere heißen Digitalisierung, Wirtschaftswachstum, Überalterung, Wettbewerbsfähigkeit, Flexibilisierung, Leistung. Sie gelten als »die Realität«, als die Umstände, deren Rechtfertigung sich den Widerspruch leistet, die Umstände gleichzeitig als gesellschaftlich und unveränderlich zu bezeichnen. Vom Menschen gemacht und den Menschen unterwerfend. Wer gegen den Strom schwimmt, will also im schlechtesten Fall damit bloß seine Besonderheit demonstrieren. Andere versuchen, sich ein kleines Stück privater Autonomie zu erarbeiten - Regelbruch als Selbsthilfe. Wieder andere wollen ein Beispiel geben. Sie zielen auf die Umstände: neue Regeln statt Regelbruch.

»Die Geschichte von Flüssen ist nicht zuletzt eine Geschichte des Versuches, das Wasser durch Menschenhand zu zähmen«, schreiben Norbert Fischer und Ortwin Pelc in ihrem Buch »Flüsse in Norddeutschland«. Seit langem werden Flussläufe durch Kanäle, Staustufen, Schleusen reguliert und dem menschlichen Willen unterworfen. Für den Nationalökonomen Friedrich List war die »Zähmung der Flüsse« ein Zeichen der Zivilisation. Was mit der Natur geht, sollte auch mit der Gesellschaft gehen.

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