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Wider den nervigen Papierkram
Hilflos den Behörden ausgeliefert sein? In der »Amtsstube« gibt es unkonventionelle Hilfe
Ämter haben keine Gesichter. Ihre Flure sind karg, ihre Wartezimmer funktional, ebenso wie die Schreiben, die die Beamten in den Büros aufsetzen. Ganz anders sieht es in der »Amtsstube« aus, die in den Räumen der Basisgewerkschaft Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) in Berlin-Wedding stattfindet. Von der Decke hängen Leuchten, auf dem Tresen stehen Christstollen und Hafermilch, dahinter ein Gemälde, das in satten Farben demonstrierende Menschen zeigt. An einer Tischgruppe brütet eine Handvoll Berliner darüber, wie man am besten sein Recht auf Akteneinsicht durchsetzt.
Jeden dritten Freitag im Monat geht im FAU-Lokal Wedding, Grüntaler Straße 24, die Post ab. Ob sie vom Arbeitgeber, Jobcenter oder der Hausverwaltung kommt, ist egal. Jeder kann seinen Papierkram mitbringen und den Inhalt besprechen. »Die Idee ist auch, sich Zeit dafür zu nehmen, wo man alleine nicht so Lust drauf hätte«, erklärt ein Gewerkschafter, der sich Charly nennt. Er moderiert die Amtsstube an diesem Tag.
Dass Behördenpost den meisten eher Kopfzerbrechen als gute Laune bereitet, zeigt sich auch am Freitag vor Weihnachten. Einer der Anwesenden schildert, dass er das 2018 bezogene Wohngeld zurückzahlen soll, obwohl er erst seit Oktober wieder beschäftigt ist. Widerspruch hat er bereits eingelegt, doch das Unbehagen bleibt: »Kann ich, soll ich noch etwas tun?«, fragt er verunsichert. Die anderen haken bei den Details nach.
Zwei Jahre suchten die Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen nach Wegen, auch Außenstehende für ihr Angebot zu begeistern. Zwar luden sie freitags immer ins »offene FAU-Lokal«, am Austausch haperte es aber trotz Spielenachmittage und Nachbarschaftscafé. »Wenn nicht gerade Beratung angekündigt war, blieb der Laden relativ leer«, sagt Charly. Er gehört zu jenen, die die Amtsstube als Anlass etabliert haben, neben der Lohnfrage auch Alltagsprobleme ökonomischer und sozialer Natur zu diskutieren. Ideengeber waren ähnliche Projekte wie das des Netzwerkes »Solidarische Aktion Neukölln«.
Die Amtsstube vor Weihnachten ist die dritte öffentliche Runde, mit dabei sind zwei Frauen, die das Angebot als erste Nichtmitglieder wahrnehmen. An Themen mangele es nie, berichtet Mitinitiator Martin Leopold, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte: »Die einzelnen Fälle sind so interessant, dass man manchmal gar nicht um den Tisch kommt, selbst wenn es wenige Leute sind.« Tatsächlich funktioniert die Amtsstube anders als klassische Beratungsformate. »Hier gilt eher das Prinzip, gemeinsam etwas zu verstehen, was man bisher nicht verstanden hat«, erklärt Charly. So ist auch das Treffen am Freitag mal angeregte Brainstorming-Session, mal stilles Recherchieren. Die Anwesenden wälzen Gesetzbücher und Ratgeber, googeln Urteile, antizipieren mögliche Reaktionen der Beamten. Wer mit dem Gefühl herkommt, verwaltet zu werden, soll mit der Gewissheit nach Hause gehen, handlungsfähig zu sein.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer setzen sich mit bestehenden Machtverhältnissen auseinander: »Man kommt hierher, weil man ein Problem mit der Staatsmacht hat«, sagt Leopold. Zu verstehen, in welchen Strukturen die Bürgerinnen und Bürger sich verfangen, sei dabei ein aktiver Umgang mit der Hilflosigkeit, die man im Kontakt mit Behörden häufig spüre.
Dass diese Hilflosigkeit zu oft auch am Arbeitsplatz vorherrscht, weiß Stephan Hauschke. Der Mitarbeiter einer Pflegeeinrichtung ist seit 2015 bei der FAU und ebenfalls im Beratungsteam tätig. »Was ich dort erlebe, ist die unfassbare Eitelkeit der Unternehmer, im Prinzip unfehlbar zu sein«, sagt er. Keine Schichten kriegen, aber auch nicht gekündigt werden, persönliche Angelegenheiten, die der Vorgesetzte gegen einen verwendet: »Das sind oft unglaublich erniedrigende Dinge, die im ganz Kleinen stattfinden und die Leute krank machen«, weiß Hauschke. Als die Idee der Amtsstube im Raum stand, war er gleich mit von der Partie.
Selbstbestimmung, Solidarität und Selbstorganisation sind Grundpfeiler der FAU, die ihre Ansätze dem Anarchosyndikalismus entlehnt. Sie spiegeln sich auch in der Amtsstube, wo die Initiatoren einen gesellschaftlichen Gegenentwurf jenseits von Konkurrenzmechanismen proben. »Für politische Organisierung, die langfristig wirkt, muss man kleine Schritte gehen und unten anfangen«, sagt Charly. Sich mit anderen zusammenzusetzen und einen Brief aufzusetzen, sei dabei die erste und wichtigste Erfahrung: »So kann ich anfangen, mich zu wehren.« Die Idee scheint aufzugehen: »Inzwischen ist es fast schon ein Spiel, mich mit den Behörden per Schreiben auseinanderzusetzen«, erzählt eine Teilnehmerin Angelika. »Ich fühle mich wie einem Schachgegner gegenüber - und bin selbst dabei, mir Schachzüge auszudenken.«
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