Jedem die eigene

Rosa Luxemburg als Aphoristikerin wider Willen

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 5 Min.

Wer in Ost wie West während der Offline-Ära zur Schule ging, hat in mindestens ein Poesiealbum geschrieben. Oder eine traurige Jugend verbracht. Denn die Einladung, sich in diesen - keineswegs nur von Mädchen geführten - Büchlein mit Sinnsprüchen, angedeuteten Komplimenten und Ähnlichem zu verewigen, war ein gar nicht so niedrigschwelliger Zuneigungsbeweis im Alter rund um die Pubertät.

In den - zumindest westdeutschen - 1980ern waren dabei etwa Passagen aus Hermann Hesses »Steppenwolf« oder »Demian« beliebt: weltschmerzgeladen schwärmend, bürgerlich-rebellisch, individualistisch. Populär waren aber auch damals so genannte Sponti-Sprüche: Mehr oder weniger hintergründige, politische, freche und wortwitzige Sentenzen mit tatsächlich oder vermeintlich unbekannter Urheberschaft, die man pauschal den damals längst ungefährlichen Ausläufern von 1968 zuschrieb: »Gestern standen wir am Abgrund, heute sind wir einen Schritt weiter«, »Nieder mit der Schwerkraft, es lebe der Leichtsinn« oder »Wenn der Krieg ausbricht, war der Frieden wohl ein Gefängnis.«

Sehr prominent war unter diesen adoleszenten Lebensweisheiten auch der Spruch »Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht.« Und es war oft eben dieser Satz, der - zumindest westdeutsche - Jugendliche erstmals mit Rosa Luxemburg in Kontakt brachte, denn in diesen Alben stand oft ihr Name unter den weisen Worten. Bis heute gelten dieselben oftmals als Klassiker aus dem Zitateschatz der Rosa Luxemburg: So kündigt das Berliner »Inforadio« für kommenden Dienstag, wenn sich ihre und Karl Liebknechts Ermordung zum hundertsten Mal jährt, unter diesem Titel eine Sondersendung an.

Dabei stammt diese Weisheit, wie der Berliner Rosa-Luxemburg-Experte Jörn Schütrumpf sagt, in dieser Form nicht von Rosa Luxemburg. Womöglich trifft eher die andere verbreitete Vermutung hinsichtlich der Urheberschaft zu: Es handle sich bei dem schönen Satz um einen typischen Sponti-Spruch aus einer unbekannten vernebelten Wohngemeinschaft. Fest steht aber auch, dass nicht nur jemand wie beispielsweise Hesse das geschrieben haben könnte, sondern eben auch Rosa Luxemburg. Wendungen, die dem in gewisser Weise nahekommen, finden sich durchaus in ihren Schriften, etwa in dem mit Blick auf Russland verfassten Text »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften« aus dem Jahr 1906.

Bemerkenswert an dem vermeintlichen Zitat mit den Fesseln - zuweilen auch »Ketten« - ist jedenfalls, dass es nicht nur in der BRD auf dem einen oder anderen Weg in die Sinnwelt der anarchistischen Spontis diffundierte und sich heute sogar in allerlei Lebensratgeberliteratur findet. Es fand seinen Weg auch in die DDR-Opposition: Der Satz gehörte neben dem Klassiker um die »Freiheit der Andersdenkenden« zu den Luxemburg-Parolen, mit denen Dissidenten im Januar 1988 das offiziöse Erinnern der DDR an eben deren Ermordung konterkarierten.

Unabhängig von der spekulativen Frage, was Luxemburg in der gegebenen Situation von dieser in ihrem Namen vollzogenen Herausforderung des Staates gehalten hätte, der sich auch auf sie berief, gibt vielleicht besonders dieses Nicht-Zitat einen Hinwies darauf, warum ihr Andenken so vielgestaltig geraten ist. Von Luxemburg kursieren zahlreiche Bonmots, die auch ohne genauere Kenntnis ihrer Überzeugungen und Analysen Sinn ergeben - als »ewige Wahrheit«, als Aphorismen, die sich individuell aneignen lassen. Es kann sich auf dieser Basis gewissermaßen jeder seine eigene Rosa Luxemburg zurechtlegen. Ein Beispiel ist ihr selbstbewusster und ebenfalls poesiealbumsgeeigneter Trennungstrost: »Der Charakter einer Frau zeigt sich nicht, wenn die Liebe beginnt, sondern wenn sie endet.« Wer hätte noch nie etwas erlebt, auf das dies nicht passte?

Zurechtlegung ist das Grundmotiv allen Andenkens an Rosa Luxemburg - besonders eklatant in der Geschichte von Kommunismus und Sozialismus. Schon Lenin hatte den Umstand, dass ihm Luxemburg in vielem widersprach, bloß damit beantwortet, dass diese dann eben irre. Grigori Sinowjew erfand in abwertendem Sinne 1924 den »Luxemburgismus«, den Stalin als »utopisches und halbmenschewistisches Schema« systematisieren ließ. In der frühen DDR geriet diese staats- und parteiräsonale Zurechtlegung zur Farce: Fred Oelßners »kritische biographische Skizze« Luxemburgs von 1951 enthielt die stalinistischen Thesen natürlich weitgehend. Fast zeitgleich aber setzte sein Politbürogenosse Hermann Matern bei der Gedenkdemo von 1950 Liebknecht wie Luxemburg mit dem »marxistisch-leninistischen Erbe« kurzerhand in eins und betonte, dass letzteres »unter der Führung Stalins von Sieg zu Sieg« eile (siehe S. 20). Dass sich auch Großhistoriker der westdeutschen Sozialdemokratie mühten, Luxemburg möglichst eng an den Leninismus heranzuschreiben, um die SPD-Politik des Jahres 1919 zu rechtfertigen, steht auf keinem anderen Blatt.

Dann doch lieber das Posiealbum? Die Luxemburg der Aphorismen, der individuellen Zurechtlegung und Sinnstiftung? Auch hierin liegt ein Moment der Tragik. Denn dass Rosa Luxemburg, die stets um Konkretion auf der Höhe ihrer Zeit bemüht war, in eine Sphäre »zeitloser« Sinnspruchhaftigkeit katapultiert wurde, hat nicht nur damit zu tun, dass sich ihre rhetorische Gewandtheit, ihr Charisma, das schon so viele Zeitgenossen faszinierte, immer wieder in Sentenzen niederschlug, die zum Aphorismus eben taugen. Sondern auch damit, dass sie mit Mitte 40 ermordet wurde.

Denn viele dieser Zitate - neben dem über die Trennung zum Beispiel das bis heute zumal in linken Jugendgruppen beliebte Diktum »Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark« - stammen aus Briefsammlungen, die Sophie Liebknecht und Luise Kautsky schon kurz nach ihrem Tod veröffentlichten. Hätte Rosa Luxemburg bis ins Alter am politischen Leben teilgenommen, wäre das - ja stets auch mit ihrem frühen Tod verbundene - Interesse an diesen Briefen wohl geringer gewesen. Und Luxemburg hätte dann noch viele anderweitig bemerkenswerte Texte produziert, die einiges der Aufmerksamkeit absorbiert hätten, die sich nun auf jene Briefe richtet.

»Auf meinem Grabe wie im Leben wird es keine Phrasen geben.« »Es ist eine Qual, Schönheit allein zu genießen.« »Der Kapitalismus ist ein alles erstickender Wein«. »Zunächst das wichtigste: die Blumen« - was davon hat Rosa Luxemburg so oder fast so geschrieben? Was ist bloß erfunden - und wenn ja: wie gut? Wer auf die Suche geht, findet vielleicht die Antworten. Sicher aber anderes, das gelesen zu haben sich lohnt.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal