Abgenudelte Offenbarungen

  • Florian Brand
  • Lesedauer: 2 Min.

Wann haben Sie sich zuletzt selbst überrascht? Ich habe neulich einen Nudelauflauf gebacken. Soweit so ungewöhnlich. Für gewöhnlich koche ich sonst nicht viel, weil nicht besonders gut. Genau genommen koche ich eher selten - um nicht zu sagen fast (!) nie -, jedenfalls nicht für mich. Der Aufwand-Nutzen-Faktor scheint mir schlicht zu unrentabel. Einkauf, Zubereitung, Warten, Abwasch, Verdauungsspaziergang. Dann doch lieber irgendetwas schnelles für To-Go oder aus dem Tiefkühlfach (dass das unter ökologischen Aspekten betrachtet keine besonders honorable Einstellung ist, ist mir klar). Außerdem springt nicht viel dabei heraus, wenn mensch nicht für andere kocht. Dachte ich zumindest bis neulich, als ich oben erwähnten Nudelauflauf genüsslich schnabulierte. Ein Freund hat mal gesagt, es lohnt sich, Zeit in sein Essen zu investieren. »Komm, wir machen uns das nett«, hat er dann immer gesagt.

Solche Momente der Offenbarung sind rar geworden. Mit 16 entdeckte ich den Reiz langer Haare (weil ich so aussehen wollte, wie Steven Seagal). Mit 17 deren Pflegeaufwand und, dass Steven Seagal gar nicht so cool ist. Aikido entschädigte mich dafür mit einer völlig neuen Form der Konfliktbewältigung. In der Oberstufe stellte Julian Plenti mein damaliges Musikverständnis auf den Kopf. Einige Jahre später erweiterten Anders Trentemøller und Ben Frost abermals mein Verständnis von Kunst. Und irgendwo dazwischen spuken immer mal wieder Textfetzen großartiger Autor*innen im inneren meines Schädeltopfes herum. So zum Beispiel Heiner Müller: ZAHNFÄULE IN PARIS / Etwas frißt an mir / Ich rauche zu viel / Ich trinke zu viel / Ich sterbe zu langsam

Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass mensch sich von Natur aus mit fortschreitendem Alter immer seltener neuen Abenteuern hingibt oder ob ich einfach abstumpfe. Oder ob es der medialen Dauerbeschallung geschuldet ist, dass ich mir das Chaos der Welt in kategorische Häppchen unterteile, um es gefiltert konsumieren zu können. Letzteres zumindest erleichtert es einigermaßen, dem alltäglichen Heckmeck aus Zahlen, Stammtischparolen und Polizeisirenen da draußen etwas abzugewinnen. Aber es hinterlässt eine Leere, die mit irgendetwas gefüllt werden will. Und so versteige ich mich in sinnlose Diskussionen und ärgere mich darüber, wie borniert das Gegenüber ist. Bis ich realisiere, dass mein Gegenüber sich eben so ärgert - über meine Blödheit.

Ab heute will ich mich wieder öfter selbst überraschen. Morgen adoptiere ich ein Hausschwein, schreibe ein Theaterstück und besteige den Mount Everest. Oder vielleicht backe ich auch erst mal ein kleines Brot, schreibe diesen Text zu Ende und fahre in den Harz.

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