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  • Polizeigewalt in Brasilien

Gegen alles, was links ist

Nach dem Amtsantritt von Bolsonaro geht die Polizei in Brasilien immer härter gegen soziale Bewegungen vor

  • Mareen Butter, São Paulo
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein Hubschrauber fliegt im Abendhimmel von São Paulo, auch eine Drohne ist zu sehen. Dumpfe Klänge von Trommeln sind leise zu hören. »Es sind ja mehr Polizisten als Demonstranten hier!«, kommentiert eine Frau und läuft kopfschüttelnd vorbei.

Zum fünften Mal in diesem Jahr demonstriert die Bewegung für den kostenlosen Nahverkehr (MPL) gegen die Erhöhung der Fahrpreise in der brasilianischen Megametropole. Rund hundert Aktivist*innen haben sich in der Innenstadt versammelt, hinter ihnen fahren bewaffnete und maskierte Militärpolizist*innen in Bussen, Autos und auf Motorrädern.

Esron Dix sitzt auf einer Metallstange vor dem Metro-Eingang São Joaquim und beobachtet das Geschehen. Als eine Gruppe Militärpolizist*innen vorbeifährt ruft er: »Aber in die Favela traut ihr euch so nicht!« Es dauert keine fünf Sekunden und eine Gruppe Beamt*innen stürmt aus einem Bus, drückt den Mann gegen eine Wand und brüllt ihn an. In Dix' Augen steht die Angst geschrieben, seine Lippen bewegen sich zu einem »Entschuldigung«. Doch die Polizist*innen lassen ihn kaum zu Wort kommen.

Einer presst Dix' Beine auseinander und sagt: »Wenn der Staat dir befiehlt, die Beine zu öffnen, tust du das gefälligst.« Schaulustige beobachten die Situation, doch niemand traut sich, einzugreifen. Nur die Freundin des jungen Mannes diskutiert mit den Beamt*innen - und gibt sich als Anwältin zu erkennen. Das verdirbt den Beamt*innen die Laune. Kurz bevor sie den Ort verlassen, sprüht eine Polizistin eine Ladung Pfefferspray auf den Boden und ruft: »Atmet jetzt ein.« Hustend und mit roten Augen rennen die Anwesenden davon. Dix bleibt sprachlos zurück.

Kurz vor der Demonstration erklärt Felipe Neves, Sprecher der Militärpolizei von São Paulo, dem »nd«: »Wir wollen klarstellen, dass die Polizei nicht hier ist, um jemandem Schaden zuzufügen. Wir sind hier, um einen Dialog herzustellen und um dafür zu sorgen, dass sich die Demonstranten auf die beste Art und Weise äußern können.«

Das sieht Gabriela Dantas anders. Die Aktivistin der MPL kennt polizeiliche Gewalt gut. Die Proteste gegen die Erhöhung der Fahrpreise in São Paulo gipfelten im Jahr 2013 in landesweiten Massenprotesten mit Millionen von Teilnehmer*innen - und einer brutalen Reaktion der Polizei. Die Gewalt der Sicherheitskräfte habe sich seitdem verstärkt: »Wir beobachten, dass die Militär- und Zivilpolizei an Überwachungsstrategien arbeitet, um Demonstrationen zu unterdrücken und Demonstrierende zu kriminalisieren«, meint Dantas. Laut der Aktivistin hätten die Regierenden Angst, dass sich die Massenproteste von 2013 wiederholen könnten.

Die repressiven Maßnahmen gegen Demonstrierende der MPL in São Paulo werden auch von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Sieben Institutionen unterzeichneten einen Beschwerdebrief an die Vereinten Nationen nach der zweiten Kundgebung im Januar, bei der mehrere Teilnehmer*innen, darunter ein Fotojournalist, verletzt und vierzehn Personen festgenommen wurden. In dem Brief wird neben Überwachungs- und »Einkesselungs«-Maßnahmen der Polizei vor allem das Dekret bemängelt, das der neugewählte Gouverneur des Staates São Paulo, João Doria, am 18. Januar unterzeichnete und das mehrere verfassungswidrige Maßnahmen enthält.

Mit dem Erlass des rechtsgerichteten Doria müssen künftig Demonstrationen mit über 300 Teilnehmer*innen mindestens fünf Tage vorher angemeldet werden. Zudem soll die Demonstrationsroute gemeinsam mit den öffentlichen Sicherheitsorganen festgelegt werden. Dies widerspreche der brasilianischen Verfassung, heißt es in dem Brief an die UNO. Denn dort heiße es, dass das Versammlungsrecht nicht von einer Genehmigung abhängig sei. Hinzu komme, dass sich Demonstrierende nicht mehr vermummen dürfen, um sich etwa vor Tränengasbomben zu schützen. Gleichzeitig können Militärpolizist*innen nur durch komplizierte Codes auf ihren Uniformen identifiziert werden.

Die Polizeigewalt nimmt auch außerhalb von São Paulo zu. In sozialen Netzwerken kursieren zahlreiche Videos, die zeigen, wie Demonstrierende in anderen Bundesstaaten Opfer von Polizeigewalt werden. »Noch ist das Klima vergleichsweise harmlos«, sagt Sandro Marandueira vom alternativen Onlinemedium Mídia NINJA dem »nd«. »Die Protestaktionen werden in der Regel nach dem Karneval stärker, wenn die parlamentarischen Aktivitäten zunehmen«.

Henrique Apolinario von der Menschenrechtsorganisation Conectas, eine der Unterzeichner*innen des Appells an die UNO, sieht einen Zusammenhang zwischen dem Gewaltanstieg und der Präsidentschaft des rechtsextremen Jair Bolsonaro: »In den Monaten nach der Wahl gab es zahlreiche Berichte über Gewalt - sowohl durch die Polizei als auch durch Teile der Bevölkerung. Viele Angreifer erklärten, dass die Wahl von Bolsonaro ihre Gewalt legitimiere.« Die Hetze von Bolsonaro und anderer rechter Politiker führe zu Angriffen gegen alles, was als links wahrgenommen wird.

Apolinario stellt eine Reihe konkreter Maßnahmen von Bund und Ländern fest, die die Militärpolizei stärken soll. So teilte Rio de Janeiros rechter Gouverneur Wilson Witzel mit, dass er Scharfschützen in Favelas einsetzen will. Auf Bundesebene plant Justizminister Sérgio Moro ein Gesetz, das Polizist*innen freispricht, die aus »Angst, Überraschung oder heftigen Gefühlen« töten.

Angst verspürte auch Esron Dix am Dienstagabend in São Paulo. Doch als die Polizei verschwindet, hält er triumphierend ein Blatt Papier in seinen Händen. Darauf hat er den Code von dem Militärpolizisten notiert, der ihn gegen die Wand gedrückt hielt.

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