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Militär, Quasimilitär, Paramilitär
Vor 100 Jahren wurde die Reichswehr gegründet - mit allen Geburtsfehlern der Weimarer Republik.
Ernst von Salomon beschreibt in seinem Buch »Die Geächteten« jenen Moment im Jahr 1918, in dem er, ein Junge von sechzehn Jahren, in seiner Heimatstadt eine Kolonne heimkehrender Soldaten beobachtet. Er zeichnet den scharfen Kontrast zwischen der Freude der an den Straßenrändern stehenden Zivilisten, die hoffen, ihre Söhne, Brüder und Väter gesund in die Arme schließen zu können, und den kühlen, verschlossenen Gesichtern der Soldaten. Ohne ein Mindestmaß an Freude zu offenbaren, marschieren sie, stumm ins Leere starrend, an den Beobachtern vorbei. Hass glaubt der Junge erkennen zu können. Diese da, die Marschierenden, seien nicht jene feldgrauen Beschützer, von denen er all die Jahre geträumt habe. Auf ihn wirkten sie wie Menschen aus einer anderen Welt. »Der Krieg beherrschte sie. Der Krieg wird sie niemals entlassen, niemals werden sie heimkehren (...). Die Krieger marschieren immer noch (...) für die Revolution, jedoch für eine andere Revolution.«
Das Gefühl, um die Frucht entbehrungsreicher Kämpfe gebracht worden zu seien, bildete die Basis der »Dolchstoßlegende«. Kein gegnerischer Soldat stand auf deutschem Gebiet. Dennoch wurde ihnen, die vier Jahre die Not der Schützengräben ertragen, die Schreie der Verwundeten und Sterbenden ausgehalten, Gas-, Artillerie- und Sturmangriffe überstanden hatten und die noch im März zur großen Michaeloffensive angetreten waren, nun klar, den Krieg verloren zu haben. Die Geschichte der Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus sind nicht zu verstehen, wird diese Situation nicht erkannt: Es gab Millionen Unzufriedene, für die der Krieg keineswegs ausgefochten war.
Für Salomon selbst wird jener unverkennbare Hass der Soldaten gegen die sie umgebenden Zivilisten zum Schlüsselerlebnis: Er radikalisiert sich, wird Angehöriger verschiedener Freikorps und bewegt sich im Umfeld der Attentäter Walter Rathenaus.
Für die junge Republik stellt das Millionenheer Heimkehrender ein hohes Risiko dar. Die neuen politischen Führer stehen vor dem Problem, über keine verlässlichen Instrumente zur Durchsetzung innerer Ordnung zu verfügen. Nach Ausrufung der Republik am 9. November 1918 gebot die sozialdemokratisch geführte Regierung über keine militärische Gewalt. Durch den Ebert-Groener-Pakt gelang eine geordnete Rückführung der Truppen von der Westfront.
Doch der Versuch, revolutionäre Soldaten- und Schutzverbände aufzubauen, scheiterte nach anfänglichen Bemühungen. So sah sich die Regierung genötigt, auf Freiwilligenverbände zu setzen - wie die nach dem Aufruf zum Freiwilligen Grenzschutz vom 9. Januar 1919 entstehenden Freikorps. Diese erwiesen sich jedoch in ihrer enormen Ausdifferenziertheit als unbrauchbar, den Schutz einer demokratischen Verfassung zu gewährleisten. Zwar gewährleisteten sie den Grenzschutz, waren aber ebenso an der äußerst blutigen Niederschlagung des Berliner Januaraufstandes von 1919 beteiligt.
Eine Truppe, deren Landsknechtsmentalität unübersehbar war, blieb ungeeignet und schien den künftigen Aufgaben nicht gewachsen. Um dem militärischen Chaos Einhalt zu gebieten, wurde am 6. März 1919 das »Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr« erlassen. Ihm zufolge lag der Oberbefehl künftig beim Reichspräsidenten und die Befehlsgewalt beim Reichswehrminister Gustav Noske (MSPD). Im Artikel 50 des Gesetzes wurde die parlamentarische Kontrolle über die Streitkräfte verankert. Noske verfügte schon wenig später über 400 000 Mann. Somit entstand erstmalig eine gesamtdeutsche Armee, denn bis 1918 bestand im Reich ein Kontingentheer. Im Juni 1919 nahm die Reichsregierung die Bedingungen des Versailler Vertrages an und verpflichtete sich zur Herabsetzung der Truppenstärke auf 100 000 im Feldheer, 15 000 bei der Marine sowie auf die Obergrenze von etwa 4000 Offizieren. Die Reichsregierung bemühte sich auf der Konferenz von Spa Anfang 1920 vergeblich, die Truppenstärke bei den 200 000 Mann, die zu diesem Zeitpunkt erreicht waren, zu belassen. Die Siegermächte bestanden auf der vollständigen vorgeschriebenen Reduzierung.
1920 wurde also das Reichsministerium gebildet, dem der Chef der Heeresleitung und der Chef der Marineleitung unterstellt wurden - und das »Truppenamt« wurde errichtet. Hinter dieser harmlos scheinenden Bezeichnung verbarg sich nichts anderes als die Fortführung des vormaligen Großen Generalstabs. Hier war die eigentliche Schaltzentrale der sich stark professionalisierenden Reichswehr. Sie wurde verkörpert durch den Chef des Truppenamtes, Hans von Seeckt. Ab 1926 erweiterten sich die Möglichkeiten zur militärischen Aufrüstung durch den Locarnopakt. Schon durch das Pariser Luftfahrtabkommen im Frühjahr 1926 war Deutschland eine beschränkte Entwicklung von Kampfflugzeugen wieder ermöglicht worden, hinzu kam der Abzug der Alliierten aus dem Rheinland. Ab 1927 nahmen die Pläne für ein auf 21 Divisionen verdreifachtes Feldheer konkrete Formen an. In den Jahren 1924 bis 1928 kam es dann zu einer Verdopplung des Wehretats.
Offiziell vollzogen war die verhängte Reduktion auf insgesamt 115 000 Mann 1921. Die Zahl täuscht allerdings darüber hinweg, dass durch die enge Kooperation mit paramilitärischen Verbänden für einen Kriegsfall weit umfangreichere Kräfte vorhanden waren. Zudem verfolgte man den Aufbau starker Polizeikräfte. In der militärisch organisierten Sicherheitspolizei wurde eine weitere Organisation geschaffen, die gegebenenfalls für einen raschen Aufwuchs zur Verfügung stand. Der Schriftsteller Ludwig Renn berichtet in seinen autobiografischen Skizzen »Anstöße in meinem Leben« vom Aufbau jenes paramilitärischen Polizeiverbandes. Renn, aus altem sächsischen Adel und vier Jahre Offizier an der Westfront, war Kompaniechef der Sicherheitspolizei. Er beendete seinen Dienst 1920 und trat später bekanntlich der KPD bei.
Hinzu kamen noch diverse Wehrverbände, deren bekanntester unter dem Namen Schwarze Reichswehr firmierte. Hierbei handelte es sich um sogenannte Arbeitskommandos, die im Wehrbereich III vom Major a. D. Bruno Buchrucker geführt wurden. Über diese Verbände berichtet etwa der spätere bayerische KPD-Politiker Richard Scheringer, der als junger Mann weit rechts gestanden und sich an geheimen Übungen der Schwarzen Reichswehr sowie am Küstriner Putsch vom Oktober 1923 beteiligt hatte. Dass er dennoch als Offizier in die Reichswehr übernommen wurde, ist symptomatisch für deren Streben nach einem politisch homogenen, keinesfalls neutralen Offizierskorps.
Dabei ging es primär um eine scharfe Abgrenzung nach links. Zugleich wurde aber der Aufstieg der nationalsozialistischen Partei zunächst durchaus mit Argwohn beobachtet, was sich gleichfalls an Scheringers Biografie verdeutlichen lässt: Als er mit zwei weiteren jungen Offizieren in der Truppe für die NSDAP warb, stellte man die Leutnante 1930 vor Gericht. Das als »Ulmer Reichswehrprozess« bekannte Verfahren vor dem Leipziger Reichsgericht endete für die Angeklagten zwar mit Festungshaft - während derer sich Scheringer 1931 überraschend von der NSDAP ab- und der KPD zuwandte -, hatte aber auch einen gewissen Alibicharakter.
Versailles und die überwiegend monarchistische oder deutschnationale Grundhaltung des Offizierskorps belasteten das Verhältnis zwischen politischen Funktionsträgern und militärischen Eliten von Beginn an. Letztere gingen zwar zunächst mit dem jungen Staat Zweckbündnisse ein, deren erstes jener Ebert-Groener-Pakt war. Sie blieben aber in ihrer Grundhaltung einem Ziel verpflichtet: der Zerschlagung des Vertrags von Versailles. Dieses Streben erklärt das hohe Maß an Professionalität, das die vor nun 100 Jahren entstandene Reichswehr kennzeichnete. Die zahlreichen Rüstungseinschränkungen veranlassten die Reichswehrführung zu allerlei Maßnahmen, etwa zur Kaderung des Personalstammes: Reichswehrangehörige wurden mindestens eine Führungsstufe über der tatsächlichen Dienststellung ausgebildet. So sollte der Mannschaftsdienstgrad zur Gruppenführung befähigt sein und der Unteroffizier das Ausbildungsniveau eines Zugführers erreichen. Zur Auswahl der Offiziersanwärter ersann man ein Verfahren, das als Vorläufer moderner Assessment-Center gelten darf.
Zur Professionalisierung beitragen sollten auch politische Entscheidungen von einiger Tragweite, etwa die enge militärische Kooperation mit der Roten Armee. Das Truppenamt befasste sich zudem mit Plänen für eine künftige militärische Auseinandersetzung mit Polen: Während die Westgrenze durch die Locarnoverträge anerkannt wurde - wofür Gustav Stresemann den Friedensnobelpreis bekam -, weigerte sich Berlin, ähnliche Regelungen mit Polen zu treffen.
Die Reichswehr bildete ab 1933 für die Nazis einen unverzichtbaren Faktor bei der Zerschlagung des Versailler Vertrages und der Vorbereitung ihrer Eroberungspolitik. Sie bot sich als Kern einer schlagkräftigen Wehrmacht an. Daher stellte Hitler die SA 1934 mithilfe der Reichswehr kalt.
Ein erheblicher Teil des Offizierskorps der Reichswehr ließ sich vor den Karren faschistischer Eroberungspolitik spannen. Andere, die den alten erwünschten Kreisen entstammten, misstrauten dem »böhmischen Gefreiten«. So waren die Köpfe des militärischen Widerstandes um Ludwig Beck fast alle ehemalige Reichswehrangehörige. Sie einte eine anfängliche Begeisterung für die Wiederaufrüstung. Generaloberst Beck etwa war keineswegs Hitler feindlich gesonnen, weil dieser militärische Expansion anstrebte. Vielmehr erschien ihm die Aufrüstung zu überhastet.
Umgekehrt hatten die Nazis Vorbehalte gegen die als konservativ geltende alte Reichswehr. NSDAP-Leute, die Hitlers Gerede von der »nationalen Revolution« ernst nahmen, waren sehr enttäuscht, als dieser auf militärische Professionalität statt auf »revolutionären Kampfgeist« setzte. Andererseits wies Hitler die Generalität der Reichswehr in die Schranken, indem er die Truppe ab 1934 auf seine Person vereidigen ließ und 1938 Reichskriegsminister Werner von Blomberg stürzte.
»Die Reichswehr legte ihren Eid auf die Verfassung ab, wahrte jedoch eine weitgehende innere Distanz und blieb (...) zu großen Teilen einem antirepublikanischen Geist verhaftet (...) und bildete letztlich einen Staat im Staate«, steht im gültigen Traditionserlass der Bundeswehr. Diese Einschätzung, nach der die Armee der Weimarer Republik als Vorbild für die Bundeswehr ausscheidet, kann man unterschreiben. Ansonsten aber tun sich Ministerium und Truppe schwer mit der Frage nach Traditionen. Während die französische Fremdenlegion oder die Marines der USA alle ihre Raub- oder Feldzüge verherrlichen, verordnet jener seit 2018 gültige Erlass der Bundeswehr die Taten einzelner ihrer Soldaten zum Angedenken, also ihre allerjüngste, zum Glück relativ ereignisarme Geschichte. Jenseits dieses Papieres aber gibt es weiter die Generalfeldmarschall-Rommel- sowie eine Mackensen-Kaserne und das Schulschiff »Gorch Fock« - wird also an Personen erinnert, deren Verhältnis zum Nationalsozialismus zumindest interpretationsbedürftig ist.
Dabei böte die Historie durchaus Traditionswürdiges: etwa Thomas Müntzer, den antinapoleonischen Befreiungskampf, die Revolution von 1848/49, die internationalen Brigaden im Kampf gegen den spanischen Faschismus. Oder wie wäre es mit dem hier mehrfach erwähnten Richard Scheringer? Untypischerweise durchlief er die Reichswehr von ganz rechts nach ganz links, wurde als deren Leutnant Kommunist, saß deswegen erneut in Haft, diente später aber dennoch als Wehrmachtsoffizier an der Ostfront - und versuchte noch 1983, als DKP-Vorstand den Schriftsteller Ernst Jünger für die Friedensbewegung zu agitieren, mit dem er gut bekannt war: ein Leben, das Wege und Irrwege jüngerer deutscher Militär- und Kulturgeschichte wie unter einem Brennglas zeigt.
Dann aber müsste man darüber hinwegsehen, dass Scheringer nach 1945 nicht nur kurzzeitig bayerischer Staatssekretär für Landwirtschaft war, sondern 1952 wegen Mitarbeit am »Programm zur nationalen Wiedervereinigung Deutschlands« der KPD zum »Verlust der Ehrenrechte« und seiner dritten politischen Haftstrafe verurteilt wurde. Und so viel Geschichtssouveränität ist bis auf Weiteres utopisch.
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