Die meisten Menschen

Jens Rachut ist zurück: Maulgruppe liefert mit »Tiere in Tschernobyl« ein musikalisches Abbild einer Katastrophe

  • Du Pham
  • Lesedauer: 3 Min.

Mehr als drei Jahrzehnte ist die Nuklearkatastrophe in der Ukraine her, seitdem gelten nicht nur die zehn Quadratkilometer des Waldes, sondern gilt eine ganze Region von 4300 Quadratkilometer als radioaktiv kontaminiert. Zugleich wird unter Berufung auf Beobachtungen des ukrainischen Biologen und Fotografen Sergej Gaschak von wachsenden Tierpopulation berichtet. Und so ist es auch. Es gibt sie, die Tiere in Tschernobyl. Während Wissenschaftler*innen sich noch nicht einig sind, welche Schlüsse aus dem vital wachsende Ökosystem in der Region zu ziehen sind, hat das Interesse der meisten Menschen an dem Super-Gau von 1986 spürbar nachgelassen.

Jens Rachut ist nicht wie die meisten Menschen, er widmet sich mit seinem neuen Projekt Maulgruppe den »Tieren in Tschernobyl« und weiß im gleichnamigen Titel: »Man wusste nichts und ahnte viel / Die Wahrheit stand im Stau / Das Monster tot, es war kein Spiel / Es gibt die Tiere aus Tschernobyl«. Giftiges Außen- und Seelenleben, bestärkt durch Gefrickel und Gefrackel, dumpfe Gitarren. Stoisch schreit der ewig Angepisste. Die elektronischen Fausthiebe fühlen sich vertraut an. Etwas ist befremdlich, der Noise ist neu. Mit den Musikern Frank Otto und Markus Brengartner von Yass, Kurt und Ten Volt Shock erschafft Rachut etwas, was einer zornigen, strahlenverseuchten Ambientprinzessin gleicht.

Während die meisten Menschen ihre freie Zeit für gewöhnlich bevorzugt bei einem Bummel in der Innenstadt verbringen, ist denkbar, dass Rachut dies nicht tut. Eine Interviewanfrage vergleicht er mit einem solchen Spaziergang. Das Interview kann dann doch geführt werden - irgendwie. Seine Erwiderung macht deutlich: Rachut ist nicht wie die meisten Musiker*innen. Fragen ignoriert er einfach; das wiederum deckt sich mit dem Kolorit des Albums.

Auf diesem finden sich Themen, die die meisten Menschen umtreibt: das ewige Hamsterrad (»Jäger«), bei dem »die meisten Menschen erzeugen / Jeden Tag das Gleiche / Sie dürfen kurz danach nach Hause / Um sich auszuruhen / Denn Gott sei Dank / Am nächsten Morgen geht’s wieder los / Die gleiche Kreuzung, die selben Phasen«. Dieser Umstand kann Depressionen auslösen, wie Rachut beschreibt: »Mein Jammern / Klebt auf meinem Hemd / Wie heul Mayonnaise / Ohne Frittierten« (»Selbstmitleid trinken«). Doch diese selbstgewählte Einsamkeit ist nichts anderes als der verzweifelte Suche nach Nähe. »Tinder« ist eine App, die die meisten Menschen nutzen, um im digitalen Romantikpark dem Alleinsein zu trotzen - nicht immer fruchtvoll: »Ich chatte dich / Du erwiderst nichts / Oh, Tinderbaby / Ich brauche dich / Wisch mich nicht weg / Ich liebe dich« (»Tinderbaby«).

Mit Otto an der Gitarre und Brengartner am Schlagzeug bekommt das Album »Tiere in Tschernobyl« eine Pelerine, die einerseits den postapokalyptischen Wahnsinn zur Schau stellt, andererseits aber dem immer auch spürbaren politischen Anliegen eine gewisse Ernsthaftigkeit verleiht. Rachuts kleine, gallenbitteren, literarischen und skurrilen Texte sind ein Abbild des Lebens der meisten Menschen der heutigen Zeit. Die gesprochenen Worte Rachuts sind kauzig und ungefiltert; Rachut verzichtet auf blumige Formulierungen und vor allem auf den erhobenen Zeigefinger. Dennoch findet sich in der Musik der Band das, was man vom Punk kennt - nebst den dazugehörigen Attitüden. Rachut selbst, seit über drei Jahrzehnten im Kulturbetrieb, hat sich und seine Kunst nie als Teil desselbigen betrachtet. Genau das ist das Besondere an seiner Musik: sie ist immer ungekünstelt - dabei nie harmlos -, sie greift in die Reproduktionen des Alltags ein.

»Tiere in Tschernobyl« vermittelt thematisch keine neuen Erkenntnisse, macht aber wieder einmal erkenntlich, welch Dichtkunst und unkonventionelle Kreatur in Rachuts Geist lebt.

Maulgruppe - Tiere in Tschernobyl, Veröffentlichung: 22. März 2019 auf Major Label

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