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  • Dritte Generation Ost

Unsere Geschichte

Würdig erinnern und Abschied nehmen: Über die »Dritte Generation Ost« und die Erfahrungen der Wendezeit

  • Judith Enders
  • Lesedauer: 7 Min.

Geboren in den Jahren 1975 bis 1985 in der DDR hat die »Dritte Generation Ost« eine besondere Perspektive auf die Umbruchs- und Transformationszeit. Menschen dieser Generation sahen, wie sich das Land ihrer Kindheit auflöste und schauten mit Neugier und Verwunderung auf eine neue Gesellschaft, in der sie sich aufgrund ihrer Jugend besser zurechtfinden konnten als ihre Eltern. Vorbilder und Orientierungspunkte wie Schule und Elternhaus gerieten ins Wanken, alles war einem schnellen und grundlegenden Wandel unterworfen. Was hat diese Generation Ostdeutscher aus dieser Zeit mitgenommen? Was kann sie zur Zukunftsgestaltung beitragen?

Was verbindet, ist die Einsicht, dass grundlegende Veränderung stets möglich ist und durchaus zu einem positiven Ergebnis führen kann. Es ist davon auszugehen, dass Elemente einer DDR-geprägten Sozialisation vermittelt wurden: durch Eltern und Großeltern, die den größten Teil ihres Lebens in der ehemaligen DDR gelebt haben.

Zugleich prägen eigene Erfahrungen in der Transformationszeit, wie die Herausforderung, sich abrupt in einem neuem Schul-, Ausbildungs-, Beschäftigungs-, ja Gesellschaftssystem zurechtzufinden. Die dritte Generation der Ostdeutschen – insgesamt 2,4 Millionen Menschen – ist in einer Zeit des Wandels aufgewachsen. Sie hat das Privileg, schon jetzt den größeren Teil des Lebens in einer demokratischen Gesellschaft verbracht zu haben. Aber sie erlebte auch die tiefgreifende Verunsicherung ihrer Eltern. Die Angehörigen dieser Generation mussten weitestgehend eigenständig die Nutzung der Freiheitsrechte erlernen, da wenige Vorbilder unmittelbar verfügbar waren.

Im medialen Diskurs taucht diese Generation jedoch kaum auf, und wenn, dann werden vor allem gescheiterte Biografien hervorgehoben. Die einzigartigen Kompetenzen, die während des Transformationsprozesses erworben wurden und die nicht zuletzt auch heute in vielen Bereichen eine Bereicherung sein können, werden hingegen kaum thematisiert.

Viele Angehörige der dritten Generation Ost haben für Ausbildung, Studium oder Arbeitssuche ihre Herkunftsorte verlassen. Der Mangel an jungen Menschen in Ostdeutschland ist nicht nur auf den demografischen Wandel (den Geburtenrückgang nach 1989 in den neuen Bundesländern), sondern insbesondere auf die Abwanderung genau jener Generation zurückzuführen.

Diese gut ausgebildeten jungen Menschen, mehrheitlich Frauen, fehlen in den strukturschwachen Regionen, nicht nur als Fach- und Führungskräfte, sondern auch als aktive Mitglieder der Gesellschaft. Der Gruppe der heute zwischen 35- und 45-Jährigen kommt bei der Gestaltung der Gegenwart eine tragende Rolle zu. Sie können zwischen den Generationen in Ostdeutschland und insbesondere zwischen Ost- und Westdeutschen vermitteln, da sie in ihrer doppelten Sozialisation und mit ihren Transformationserfahrungen über einen breiteren Erfahrungsschatz als andere verfügen.

Auch 30 Jahre nach der friedlichen Revolution sind die sozialen Folgen dieses einzigartigen historischen Ereignisses, dieser kollektive Migrationserfahrung, noch spürbar. Das Ende des alten Systems, die Institutionalisierung und Konsolidierung des neuen Systems ist der Erfahrungsraum, der die Transformationserlebnisse der Ostdeutschen umreißt.

Auf der individuellen Ebene beobachtet man ein eher schwach ausgeprägtes Selbstbewusstsein, typische Schwierigkeiten durch »Migrationserfahrungen« und mangelndes politisches wie zivilgesellschaftliches Engagement. Unter den Führungskräften in Politik und Wirtschaft in Deutschland ist der Anteil Ostdeutscher gering. Die Bildung neuer Identitäten und die Entwicklung nachhaltiger Visionen für ein zukunftsfähiges Ostdeutschland haben erst begonnen. Der durch Transformation geprägte gemeinsame Erfahrungshorizont hat die dritte Generation Ostdeutschlands in besonderer Weise beeinflusst und sie in die Lage versetzt, die andauernden Transformationen Deutschlands progressiv mitzugestalten.

Die jüngeren Menschen Ostdeutschlands scheinen diese Erfahrungen heute insofern fruchtbar machen zu können, als sie den Umgang mit Veränderung systematisch erfassen und das während der Wende Gelernte nutzen.

Was haben sie mitgenommen, beispielsweise aus der gemeinsamen Erfahrung eines anderen Frauen- und Familienbildes, einer durch Mangel geprägten Haltung zu ressourcenschonendem Verhalten und der Erfahrung einer flächendeckenden Versorgung durch ein staatliches Gesundheitssystem und eines egalitären Bildungssystems?

Was resultiert aus der Erkenntnis, dass trotz der hohen Umweltbelastungen in der DDR, die zugleich von einer sehr modernen Umweltgesetzgebung flankiert wurden, einige Nischen und unbearbeitete, nicht landwirtschaftlich in Wert gesetzte Ecken existierten? Der ökonomische Zusammenbruch der DDR hat zu einem mehr als 50-prozentigen Anteil dazu beigetragen, dass Klimaschutzziele erreicht wurden.

In dem Buch »Wie war das für euch? Die Dritte Generation Ost im Gespräch mit ihren Eltern« erzählen die 1975 bis 1985 Geborenen, warum sie nicht aufhören, sich mit der eigenen Herkunft und der Familiengeschichte auseinanderzusetzen, um gleichzeitig die Zukunft gestalten zu können. Die Entstehung des Buches geht auf eine 2012 organisierte Konferenz »Die Dritte Generation Ost im Dialog mit der Zweiten Generation« zurück. Hier hatte sich gezeigt, dass es kaum Gespräche zwischen den beiden Generationen über die DDR gibt und das Thema wenig aufgearbeitet ist.

Wir fragten uns, wie die Kommunikation über die Wendezeit in den Familien verläuft, ob es Tabuthemen oder Grenzen gibt oder warum sie möglicherweise nicht stattfindet. Was sind die Ursachen für das Schweigen? Das war eine emotionale Herausforderung. Gerade dort, wo die Kommunikation mit der Elterngeneration schwierig war, weil diese eigentlich nicht wollte oder noch zu wenig darüber nachgedacht hatte, gab das Buchprojekt den Impuls, einen Dialog über die unterschiedliche Wahrnehmung der Wendezeit zu beginnen.

Die emotionale und biografische Aufarbeitung hat gerade erst begonnen. In vielen Familien gibt es nach wie vor eine große Sprachlosigkeit, jenseits von Anekdoten oder Allgemeinplätzen, über die Vergangenheit. Das Besondere an der dritten Generation Ostdeutschlands ist, dass deren Elterngeneration in einer Zeit, in der die Eltern sich normalerweise mit ihren Kindern über ihre Zukunft, Werte et cetera auseinandersetzen, also in der Pubertät, dazu wenig Gelegenheit hatte, da sie zu sehr mit sich selbst und der Bewältigung der Umbruchszeit beschäftigt war.

Man kann auch erst nach rund 30 Jahren gesellschaftliche Ereignisse so einordnen, dass die Emotionen nicht überwiegen. Es ist wichtig, die eigene Rolle und das eigene Verhalten in der DDR erst einmal in der Familie zu reflektieren. Sie ist ein Schutzraum und ermöglicht, sich später auch öffentlich auseinanderzusetzen. Kann man die Vergangenheit persönlich nicht verarbeiten, blockiert das ganze gesellschaftliche Gruppen oder eine ganze Generation – die ja auch nur aus vielen Individuen besteht –, neue Situationen und Erfahrungen anzunehmen. Und damit sind nicht nur die Ostdeutschen gemeint.

Die Beschäftigung mit der DDR erschöpft sich nicht im Auswerten der Stasi-Akten. In Westdeutschland gab es bisher, wenn überhaupt, nur eine marginale Auseinandersetzung mit der DDR-Alltagskultur und der Wendezeit. Viele haben kein Gefühl dafür, wie schwierig die Umbruchszeit für die Menschen im Osten war. Da fehlt nicht nur Empathie, sondern einfach das Verstehen, was passiert ist und was das mit den Menschen gemacht hat. Die Bürger aus Westdeutschland sollten erkennen, dass die Wende Teil ihrer eigenen Geschichte ist.

Heute sind wir Kinder von damals oft selbst Eltern. Die nächste Generation fragt uns, was war die DDR, was war die Berliner Mauer, warum hat es sie gegeben? Für unsere Kinder sind das alles Daten der Geschichte, wir sind die Letzten, die Emotionen, Erlebnisse und Bilder vor Augen haben, die daran erinnern, was es bedeutete, in der anderen »deutschen Republik« geboren und aufzuwachsen zu sein. Wir müssen uns überlegen, welche Erinnerungen wir weitertragen wollen.

Darum wurde ein Projekt für den Geschichtsunterricht entwickelt, in dem die junge Generation von DDR-Geborenen als Zeitzeuge des Alltags auftritt. Es ist überraschend, wie schnell gelebtes Leben zu Geschichte wird. Die alltagsweltlichen Berichte vom Erwachsenwerden in zwei politischen Systemen ergänzen das Spektrum der Zeitzeugenerzählungen über die DDR und die Wiedervereinigung. Eine Auseinandersetzung mit Kindheits- und Jugenderinnerungen erleichtert es heutigen Schüler*innen zudem, die deutsche Teilungs- und Wiedervereinigungsgeschichte mit dem eigenen Erfahrungshorizont abzugleichen. Das Projekt hilft, mit Umbrüchen umzugehen, Veränderungen positiv zu deuten und deren Potenzial frühzeitig zu erkennen.

Unsere Geschichte authentisch zu erzählen, die dazugehörigen Gefühle und Erfahrungen nicht zu vergessen, und daraus individuelle Schlüsse zu ziehen, das ist die Aufgabe, die unsere Generation erfüllen soll. 30 Jahre nach dem Mauerfall ist es Zeit geworden, sich würdig zu erinnern und zugleich Abschied zu nehmen.

Dr. Judith C. Enders ist Mitbegründerin der Initiative »Dritte Generation Ost« und aktiv im Verein Perspektive3. www.perspektive-hoch-drei.de Von ihr erschien unter anderem gemeinsam mit Michael Hacker: »Dritte Generation Ost – wer wir sind, was wir wollen« (Ch. Links Verlag).

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