Geisterstadt in den Abruzzen

  • Wolf H. Wagner
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein abendlicher Spaziergang durch L’Aquila ist gespenstisch. In der Dämmerung sieht man frisch verputzte Häuser mit modernen Fenstern. Ladenzeilen, hinter deren Schaufenster jedoch noch keine Waren zu sehen sind. Straßenbeleuchtung gibt es nicht, nur die Scheinwerfer der Baustellen erleuchten die Stadt. Wenige Passanten sind unterwegs: Einwohner, die in ihre rekonstruierten oder wenigstens reparierten Häuser zurückgekehrt sind. Wo einst abendliches Leben pulsierte herrscht heute Stille. Zehn Jahre nach dem schweren Erdbeben vom 6. April 2009 ist das Leben in den Hauptort der Region Abruzzen immer noch nicht zurückgekehrt.

Mit dem Erdstoß, der um 3.32 Uhr an jenem 6. April die Region erschütterte, hatte sich das Leben in L’Aquila und den umliegenden Gemeinden von einem Moment auf den anderen völlig verändert. 309 Menschen kostete das Beben ihr Leben, viele weitere wurden verletzt und mussten lange in Krankenhäusern behandelt werden. 67 000 Menschen verloren ihr Obdach. Etwa 4200 Familien wohnen heute in den in Eile errichteten Neubauten der vom damaligen Regierungschef Silvio Berlusconi versprochenen »Newtown«, noch 6300 Menschen in den Holzbaracken, Notunterkünften des Zivilschutzes.

Berlusconi hatte seinerzeit große Versprechungen gemacht, die Stadt sollte schöner erblühen als je zuvor. Doch die Erfüllung des Versprechens lässt auf sich warten, weder der »Cavaliere« noch seine Nachfolger haben die Abruzzenstadt wieder aufgebaut. 18 Milliarden Euro an Investitionen sind bislang geflossen, vieles von dem Geld jedoch verschwand in dunkle Kanäle. Die zuständigen Staatsanwaltschaften ermitteln wegen mafioser Verstrickungen, die immer wieder dann auftauchen, wenn in Italien Großbauprojekte zu vergeben sind.

Rom wie auch die Regionalbehörden hatten schnelle Hilfe versprochen. Doch der Dschungel der italienischen Bürokratie ist dicht und schwer zu überwinden. Im Rahmen der 24 947 genehmigten Bauanträgen wurden bislang nur 8264 Baustellen in Angriff genommen oder abgeschlossen. Private Bauvorhaben sind zur Hälfte erledigt. Die Errichtung öffentlicher Bauten - Schulen, Kindergärten, die Gebäude der Universität - hinkt hinterher. Erst 35 Prozent dieser Projekte sind bislang beendet. Vorsichtige Prognosen schätzen die Fertigstellung der Rekonstruktion auf 2034, sollte das bisherige Bautempo beibehalten werden. Dann aber wird L’Aquila schöner sein, als es bislang war.

So hoffen es jedenfalls die wenigen, ins Zentrum zurückgekehrten Bürger. Wie Giuseppe Colaneri, Inhaber des Büroartikelladens »La Luna«. Nach dem Beben, bei dem er alles verloren hatte, versuchte er an verschiedenen Orten, einen Laden zu eröffnen, 2013 ließ er sich wieder im historischen Zentrum der Stadt nieder. Er hält es für wichtig, dass das Leben ins Zentrum zurückkehrt. Bis dahin wird es jedoch noch lange dauern. Und L’Aquila ist nicht der einzige Ort, der auf Wiederaufbau wartet. Fünf Jahre nach dem Beben in den Abruzzen zerstörten weitere Erdstöße die Gemeinden um Amatrice und Norcia. Auch hier leben noch Tausende in Notunterkünften.

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