Arme Kinder haben arme Eltern

Expert*innen aus der Praxis fordern stärker familienorientierte und armutssensible Politik

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 5 Min.

Kein Urlaub, kein Kino, keine Geburtstagsfeier, keine Bücher Zuhause: die Realität armer Kinder ist bedrückend. Zusätzlich zum kulturellen Ausschluss haben sie oft zu wenig Platz, zu wenig Bewegungsfreiheit und mehr gesundheitliche Probleme. 172 000 von aktuell 538 970 Berliner Kindern leben von sogenannten Transferleistungen, 27 Prozent gelten als arm, in Lichtenberg sind es 25 Prozent. Aber die Dimension – das wird beim von der Caritas am Dienstagabend veranstalteten Werkstattgespräch »Bildung gegen Armut? Was tut das Land Berlin?« klar – ist bei weitem größer.

»Den meisten Kindern fehlt ein offenes Ohr. Auch das ist eine Form von Armut. Wir merken das, wenn wir mit den Kindern zusammen kochen, gemeinsam essen, mit ihnen Ausflüge machen.« Florian Ruf leitet die Jugendeinrichtung »Magda« unter dem Dach des »Holzhauses« in der Lichtenberger Gotlindenstraße. Der schlaksige junge Mann und sein Team sind Gastgeber des Werkstattgesprächs, zu dem Ulrike Kostka, Direktorin des Caritasverbandes, und Christian Thomes, Leiter der Gesundheits- und Sozialpolitik des Caritasverbandes, dieses Mal Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) eingeladen haben. In lockerer Atmosphäre treffen sich bei diesem Gesprächsformat Vertreter*innen aus Politik und Praxis mit dem Ziel, sich gegenseitig mit Anregungen für die jeweiligen Tätigkeitsbereiche zu versorgen. Die drei Diskutant*innen kennen einander aus Debatten und Arbeitskreisen. Es soll daher nicht lange um den heißen Brei herum, sondern lebhaft diskutiert werden. Christian Thomes bittet die Senatorin auch unverblümt, weniger das schon politisch Erreichte – Abschaffung der Hortgebühren bis zur 2. Klasse, Lernmittelbefreiung, kostenloses Schulessen – in den Vordergrund zu stellen, sondern vielmehr auf die Vorschläge einzugehen, die im Laufe des Abends eingehen.

Was Armut bedeutet, erfahren die meisten der Versammelten in ihrer täglichen Tätigkeit in der freien Jugendarbeit, bei Verbänden, in der sozialen Arbeit. Sandra Scheeres kann beschreiben, wie es ist, »in einer 45-Quadratmeter-Kellerwohnung mit einer alleinerziehenden Mutter« aufgewachsen zu sein. »Wenn man viel für sich erkämpfen muss, kann einen das stark machen«, sagt sie. Eines der größten Probleme sei aber, so Ulrike Kostka, dass sich arme Kinder sehr wenig zutrauen. Die meisten träten mit einer Grundresignation ins Leben, die es ihnen von Anfang an sehr erschwere, ein anderes Selbstbild zu entwickeln – Scham und Selbstbeschämung seien ständige Begleiter.

Sandra Scheeres lenkt an dieser Stelle den Blick auf die Rolle der Eltern. Viele seien es nicht gewohnt oder könnten es sich nicht leisten, ihre Kinder so zu stärken oder zu bestärken, dass sie im Hinblick auf Bildung und Ausbildung mehr Selbstvertrauen entwickeln. Die Senatorin setzt hier auf andere Akteure, zum Beispiel Sportvereine. »Kinder müssen die Erfahrung machen ›Ich kann was!‹, dann überträgt sich das auch auf andere Bereiche.« Zudem müssten Lehrer*innen stärker hinsichtlich der Bedeutung von Wertschätzung und Anerkennung abseits vom Notenstandard ausgebildet werden.

Christian Thomes möchte an diesem Punkt gern einen Schritt weitergehen: Er wünscht sich statt der ausschließlichen Anerkennung über Noten und Zeugnisse mehr Anerkennung für andere Fähigkeiten. »Wir haben ein mittelschichtgeprägtes Schulsystem. Die Abfrage von Wissensstandards funktioniert wie ein Filter. Anerkennung für das ›Durchkämpfen‹ gibt es doch in der Schule gar nicht.« Thomes wünscht sich eine Art Zeugnis auch für diejenigen, die die geltenden Standards nicht schaffen, selbst wenn Noten Orientierung und Vergleichbarkeit sichern, wie Ulrike Kostka einwirft. Sandra Scheeres sieht das Berliner Bildungssystem mit seinen Gesamt- und Gemeinschaftsschulen »weit vorn«. Aber auch die Gesamtgesellschaft müsse sich hier engagieren, desgleichen die Wirtschaft, die bestehende Zertifikate stärker anerkennen muss.

Wie sich die hohen zehn Prozent von Berliner Jugendlichen ohne Schulabschluss ergeben, darauf hat auch die Jugendsenatorin keine Antwort. Ulrike Kostka gibt das Plädoyer für Verantwortung noch einmal in die Schulen zurück: Viele Lehrer*innen würden armen Kindern weniger zutrauen, auch aufgrund ihres fehlenden Einblicks in deren Lebensrealität. In der Stadt Freiburg im Breisgau würden schon Lehramtsstudierende arme Kinder in ihrem Alltag begleiten und seien so anders für deren Probleme sensibilisiert. Andererseits brauche es auch in den Schulen mehr Paten- und Vorbildmodelle, um ein gesamtgesellschaftliches soziales Verantwortungsgefühl zu fördern. Stattdessen würden bürgerliche Eltern in Berlin versuchen, für ihre Kinder Schulen ohne zu viele soziale Themen zu finden. Sandra Scheeres findet auch: »Im Kontakt mit Inklusionskindern ist eben nicht immer ›alles tutti‹.«

Lesen sie auch zum Thema: Sensibel für Armut. Claudia Krieg über bürgerliche Ängste vor armen Menschen. Ein Kommentar von Claudia Krieg

Mit der Öffnung der Diskussion für das Publikum wird an diesem Abend in Lichtenberg noch einmal deutlich, wie differenziert das Problem Kinderarmut in Berlin betrachtet werden muss. Jens-Uwe Scharf ist Caritas-Fachreferent für Kinder- und Jugendhilfe. »Wir haben hier so viele von Armut ›erschöpfte Familien‹, die Entlastung und Zeit brauchen.« Er wünscht sich eine Familienstelle, um stärker die bürokratischen Hürden für Hilfen und Sozialleistungen abzubauen. Christian Thomes ergänzt diesen Vorschlag: Warum nicht mit Hilfe vom »Berlin-Pass« all das komplizierte Antragsmanagement erleichtern? »Wer den Pass hat, bekommt alle nötigen Unterstützungen und muss nicht mehr aus einer dreistelligen Anzahl von Anträgen auf Hilfe auswählen.« Andere Städte würden hier vorangehen.

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