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Den Staat abwehren, solange es ihn gibt

Im neuen Grundrechtereport geht es um Geflüchtete, Ostdeutsche und Umweltfragen

  • Lotte Laloire
  • Lesedauer: 5 Min.

»Der Mensch existiert nicht um des Staates, sondern der Staat um des Menschen willen.« Diese Sicht des allseits geschätzten Gregor Gysi im Vorwort des neuen Grundrechtereports teilen nicht alle Linken. Radikale Linke beschäftigt, warum man in einem Gemeinwesen leben soll, gegen das Menschen »Abwehrrechte« brauchen. Denn das ist die primäre Funktion von Grundrechten: Bürger*innen vor dem Staat schützen. Daran erinnern die Herausgeber*innen auf den ersten Seiten des Grundrechtereports 2019, den sie diesen Donnerstag in Karlsruhe vorstellen.

Dass Grundrechte selbst in einem vergleichsweise demokratischen Staat wie Deutschland unverzichtbar sind, ist schon eher Konsens. »Das Grundgesetz braucht auch 2019 den Grundrechte-Report, der mit einer Vielzahl von Beispielen, wie in unserem Land verfassungsmäßige Grundrechte missachtet und eingeschränkt werden, mahnt, nicht nachzulassen im Einsatz für deren Schutz und Verteidigung«, sagte der Rechtsanwalt und ehemalige Fraktionschef der Linkspartei Gysi im Vorfeld. Er wird bei der Veröffentlichung im Schlosshotel Karlsruhe sprechen. Das Datum dafür haben die Herausgeber*innen rund um neun Organisationen wie der Humanistischen Union, Pro Asyl oder auch dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) nicht zufällig gewählt: Die 23. Ausgabe des Grundrechtereports erscheint am 23. Mai - dem 70. Geburtstag des deutschen Grundgesetzes. Ebenfalls vor 70 Jahren trat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Kraft.

Wie jedes Jahr werden bei der Präsentation Menschen dabei sein, die im Grundrechtereport vorkommen. Einer von ihnen ist der Rechtsanwalt Engin Sanli. Der Stuttgarter setzte sich für einen Mann aus Togo ein, der nach einem massiven Polizeieinsatz aus einem Lager in Ellwangen abgeschoben wurde. Daraufhin erhielt Sanli Hass-Emails und Drohbriefe. Politiker*innen diffamierten ihn als Teil einer »Anti-Abschiebe-Industrie« - das ist ein rechtsextremer Kampfbegriff, mit dem eine Tätigkeit als lukratives Geschäft verunglimpft werden soll, die in Wahrheit viel weniger gut bezahlt ist als andere Anwaltsjobs. Sanlis Fall zeigt, wie auch Jurist*innen zunehmend unter Druck geraten.

Ob ein Staat »um des Menschen willen existieren« kann, wie Gysi es sich wünscht, bezweifelt regelmäßig, wer bei Demonstrationen Schlagstöcke, Fäuste oder Pfefferspray im Gesicht spürt - etwa beim Protest gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg, dessen juristische Aufarbeitung in den Berichtszeitraum des Reports fiel. Diese Verletzungen der Menschen und ihres Rechts auf Versammlungsfreiheit lassen die Grundrechte an ihrem Geburtstag alt aussehen. Statt all das umfassend aufzuarbeiten, »hüte« die eigens für G20 gegründete »Soko Schwarzer Block« mehr als 32 000 Bild- und Videodateien und habe mit Software zur Gesichtserkennung eine »biometrische Referenzdatenbank« erstellt, wie Britta Eder in ihrem Beitrag schreibt. Zeitgleich wurde die Polizei weiter aufgerüstet, weshalb die Autorin Michèle Winkler befürchtet, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG) erodiert.

Doch nicht nur die Polizei ist ein Problem. Die Herausgeber*innen stellen im Vorwort des rund 200-seitigen Sammelbandes klar: »Die Angriffe auf Grundrechte waren auch 2018 wieder zahlreich und gingen von unterschiedlichen Akteur*innen aus.« Insbesondere für Geflüchtete ist das Recht auf Asyl aus Artikel 16a oft bloß Utopie. Fünf Texte widmen sich dem unerfüllten Asylversprechen, der »Regelungsattrappe« zum Familiennachzug, der »staatlichen Lagerhaltung« sowie Abschiebungen als »Triumph der postfaktischen Politik« - und bilden damit den größten Themenblock des Reports. Darüber hinaus geht es um die Rechte von Paketzustellern und kirchlichen Beschäftigten oder psychisch Kranken.

Im Vergleich zum Vorjahr ist dieses Jahr ein Block zu Umweltfragen dabei. Denn Artikel 20 GG verpflichtet den Staat auch »in Verantwortung für die künftigen Generationen Lebensgrundlagen und die Tiere« zu schützen. So erklärt Katrin Brockmann in ihrem Artikel, wie Glyphosat mit dem Grundgesetz ins Gehege kommt. Gerade das als naturverbunden geltende Bayern tritt die Umwelt mit Füßen, wie auch der Berliner Anwalt Remo Klinger zeigt. Statt Fahrverbote umzusetzen, schob das Justizministerium 2018 einfach ein vom Gericht verhängtes Zwangsgeld an das Umweltministerium. Neben Luftreinheit missachtet diese Regierung also auch das Primat des Rechts. »Die politische Haltung ist klar: Das höchste bayerische Verwaltungsgericht kann sagen, was es will, unsere Macht ist stärker«, schreibt Klinger über die Ignoranz der CSU.

Ein weiteres Kapitel nimmt die Ostdeutschen in den Blick. Sie machen je nach Definition circa 17 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, aber höchstens drei Prozent unter ihnen nehmen Spitzenpositionen im Bund ein, schreibt die frühere Verfassungsrichterin in Brandenburg, Rosemarie Will. »Im Osten liegt derzeit das mittlere Vermögen bei 8000 Euro pro Kopf, im Westen bei gut 21 000 Euro.« Anhand dieser Zahlen könne man nicht davon ausgehen, dass die wirtschaftlichen Lücken sich ohne politisches Zutun schließen werden, warnt die Professorin. »Dies ist ein Problem für die demokratische Chancengleichheit«, meint sie. Interessant daran ist, dass Will diese Schieflage als Verletzung des Gleichheitsgebots aus Artikel 3 GG einordnet. Passend zur Diskussion unter dem Schlagwort »critical westness«, die kürzlich eine Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung ausgelöst hatte, stellt Will die Frage: »Liegt eine strukturelle Diskriminierung Ostdeutscher vergleichbar mit der anderer Gruppen wie z.B. Frauen, Muslim*innen, oder Menschen mit Behinderung vor?« Von struktureller Diskriminierung wird - im Vergleich zu Ressentiments oder Hass - gesprochen, wenn die Benachteiligung bestimmter Gruppen in der Organisation der Gesellschaft begründet liegt.

Man muss nicht Autonome oder Anarchistin sein, um sich angesichts dieser Verletzungen zu fragen, ob diese kapitalistische Bundesrepublik Grundrechte überhaupt garantieren kann. Könnte sie es, wäre die neue Ausgabe des Grundrechtereports nicht nötig gewesen. Seit 1997 dokumentiert das Buch, das längst eine Institution ist, Rechtsverstöße - ohne Paragrafenreiterei, sondern immer mit einem Gespür für die dahinterliegenden gesellschaftlichen Konflikte.

Im Inhaltsverzeichnis stehen dieses Jahr übrigens 24 männliche und 15 weibliche Vornamen, was für juristische und auch für linke Publikationen erfreulich ist, da es Willen zur Geschlechtergleichheit beweist. Auch junge Menschen sind beteiligt, wie die Juristin Iris Burdinski oder die Klimaaktivistin Inken Behrmann. Trotz all der haarsträubenden Grundrechtsverletzungen, die der Sammelband offenbart, gibt das Hoffnung: Auch in Zukunft werden Expert*innen dafür sorgen, dass Grundrechte Menschen vor dem Staat schützen.

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