Werbung

Rot Front!

OSSIS TAGEBUCH

  • Kalle
  • Lesedauer: 3 Min.

9. Juni 1989: »Die Statistik ist die wichtigste Hilfswissenschaft in der neuen Gesellschaft, sie liefert das Maß für alle gesellschaftliche Tätigkeit.« Seine Überzeugung unterstrich August Bebel in seinem mit Statistiken gespickten Buch »Frau im Sozialismus«, das auch bei uns, im Haushalt einer werktätigen Mutter, die dem DFD angehört, nicht fehlt. Mit seinen 1,5 Millionen Mitgliedern hat der Demokratische Frauenbund Deutschlands eine eigene Fraktion in der Volkskammer, die heute die Haushaltsbilanz von 1988 präsentierte: 15 Milliarden Mark für die Nationale Verteidigung, 18 Milliarden für Sozialversicherungen, nur 9,3 Milliarden fürs Gesundheitswesen - was unseren Krankenhäusern und Polikliniken anzusehen ist. Dafür hat der Staat 50 Milliarden für stabile Preise auf Lebensmittel, Mieten, Verkehr, Kinderbekleidung, Schulspeisung etc. ausgegeben. Find ich gut. Aber vielleicht hat Jürgen Kuczinsky dennoch recht, dass wir uns die 20 Pfennige im öffentlichen Nahverkehr und ähnliche Subventionen eigentlich schon längst nicht mehr leisten können. Sie fördern auch Verschwendung. Weil ein Kilo Brot, 50 Pfennige, billiger ist als Tierfutter, mästet Schwiegerpapa Rudi, wie andere auch, seine Kaninchen zu saftiger Bratenreife mit Produkten aus dem VEB Bako.

12. Juni 1989: Mit einem pompösen Festakt wurde gestern unter Anwesenheit von Erich Honecker der Greifswalder Dom wieder eingeweiht. Es gab Proteste. Manche Christen fanden hier das Motto »Kirche im Sozialismus« überinterpretiert, und die Greifswalder waren empört über die »Potjemkinschen Dörfer«, die man in ihrer Stadt zum hohen Besuch errichtete. Verfallene Häuser sind notdürftig verputzt und angestrichen worden. Auch mein Nachbar, Veteran des antifaschistischen Widerstands, ist erzürnt. Als ich ihm heute seinen Einkauf die Treppe hochschleppte, wetterte er: »Wie kann man Abgesandte eines Kriegsverbrecherkonzerns einladen?« Berthold Beitz, den Alfried Krupp von Bohlen und Halbach noch persönlich zu seinem Generalsbevollmächtigten ernannt hatte, war bei der Dom-einweihung anwesend, da Krupp die Sanierung mitfinanziert hat. »Honecker saß zehn Jahre im Zuchthaus und kriecht jetzt Hitlers Finanzier in den Arsch! Wie tief kann man sinken?« Ich versuchte, den alten Herrn zu beruhigen, erinnerte daran, dass Honecker bei seinem BRD-Besuch 1987 zu Gast in der Villa Hügel in Essen war und der Zaun an der deutsch-deutschen Grenze aus Kruppstahl ist. Mein Einwand brachte ihn noch mehr in Rage. Unsere führenden Genossen seien eben keine Thälmann-Kommunisten mehr, schimpfte er, dankte mir für die Schlepperei mit einem knurrigen »Rot Front!« und schlug seine Wohnungstür laut vor meiner Nase zu. Als sei ich schuld daran, dass Beitz nach Greifswald eingeladen wurde.

Ossis Tagebuch

Neu: Spektakuläre Offenbarungen aus dem geheimen Tagebuch eines Bürgers der DDR aus dem Jahr ’89. Die Kolumne unter: dasND.de/tagebuch

13. Juni: Der Unmut in unserem Land scheint generationenübergreifend zu sein. Und ich bin das Ventil. Meine Nichte Nicole beschwerte sich bei mir, dass ihre Lieblings-Punkband »Herbst in Peking« Auftrittsverbot habe: »Nur weil sie bei einem Konzert mit einer Schweigeminute der Opfer auf dem Platz des Himmlischen Friedens gedachten.« Kalle

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.