Zurück nach Yenice Köy

Olivier David über einen Friedhof, auf dem Menschen ihre guten Ideen symbolisch beerdigt haben

Friedhof der guten Ideen – Zurück nach Yenice Köy

Meine Großmutter mochte Gärten, heißt es. Ich schreibe »heißt es«, weil ich es nicht selbst aus erster Hand weiß. Meine Tante hat es mir erzählt. Meine Großmutter ist 2011 gestorben, zwei Jahre vor der Eröffnung der internationalen Gartenschau in Hamburg. Sie hatte gehofft, die Eröffnung der Schau noch zu erleben.

Knapp 15 Jahre nach ihrem Tod ziehe ich wieder nach Hamburg und laufe durch den Wilhelmsburger Inselpark. Mein Ziel ist der Friedhof der guten Ideen des Künstlers Mark Wehrmann. Dort hat Wehrmann zur Eröffnung der Ausstellung 2013 im Dialog mit Besucher*innen deren nicht realisierte Ideen auf Grabsteine gemeißelt.

Die Idee zieht mich deswegen an, weil ich ein ganzes Sammelsurium an Ideen und Plänen habe, die sich mal wöchentlich, mal stündlich ändern – und von denen ein relevanter Teil nie das Licht der Welt erblickt. Und trotzdem habe ich den Eindruck, dass die ungeborenen Ideen ein Teil von mir sind. Warum sie also nicht symbolisch zu Grabe tragen?

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der monatlichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.

Auf dem Friedhof stehen ungefähr 20 Grabsteine in mehreren Reihen auf ein paar dutzend Quadratmetern. Ich lese, was auf den Grabinschriften steht: »Aristo t.v. f Fernsehformat über die Welt des Adels«; »Plattdeutsches Buch über die Moral von Bankern«; »Überdachte Radwege für Pendler«.

Es gibt noch einige andere Inschriften auf den Steinen, die ähnlich lauten. Fast glaubt man, die Menschen hinter diesen gewöhnlichen bis witzig gemeinten Träumen und Träumchen sehen zu können, wie sie bei der Eröffnung durch den Inselpark streifend von dem Künstler angesprochen werden und endlich über das Unabgeschlossene, das nicht Angefangene sprechen dürfen.

Zwei Grabsteine berühren mich auf diesem Friedhof. Auf dem einen steht geschrieben: »Ich gehe zurück nach Yenice Köy und baue mir ein Haus aus Lehm.« Der Satz macht eine ganze Welt auf. Ich meine, die tröstende Funktion der ersten oder zweiten Einwanderergeneration aus ihm herauslesen zu können. Im »Ich gehe zurück« steckt für mich ein Trost, nicht alles in Deutschland aushalten zu müssen. Nicht den Rassismus, nicht die oftmals unwürdigen Arbeitsbedingungen, nicht die Ferne zur eigenen Heimat. Diese gute Idee begraben zu müssen, ist wohl sinnbildlich für die Geschichten vieler Einwanderer, die einst nicht gekommen waren, um zu bleiben – bis sie eines Tages der Realität ins Auge blicken mussten.

Dem zweiten Grabstein fehlt die Inschrift. Auf ihm ist ein schwarzer, viereckiger Fleck zu sehen. Vielleicht hat hier jemand etwas hingeschrieben, was sich nicht gehörte, und es wurde weggemacht. Für mich steht dieser Grabstein stattdessen repräsentativ für die Ideen, Wünsche und Träume derer, die nicht gefragt wurden. Entweder, weil sie, wie meine Großmutter, die Eröffnung des Parks nicht mehr erlebt haben. Weil sie sich die Eintrittskarte damals (ganze 21 Euro) nicht leisten konnten. Oder weil sie zur Gruppe derjenigen gehören, bei denen es in ihrer Klassenposition begründet ist, dass sich fast alle Ideen nicht umsetzen lassen, weil dazu Mittel und Zeit fehlen.

Ich entsorge auf dem Friedhof die Idee, einen Essay in Buchform zu schreiben über gute Ideen, die zu Grabe getragen werden mussten.

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