S-Bahn hat die Kurve gekriegt

Fahrgastverband fordert Qualitätsprogramm »U-Bahn Plus« für stabileren Betrieb

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.

Ob er da nicht etwas übermütig ist? »Wir haben das Ziel, die Japaner Deutschlands zu werden«, erklärt Alexander Kaczmarek, Konzernbevollmächtigter der Deutschen Bahn für Berlin. Er will das Pünktlichkeitsniveau der Berliner S-Bahn also auf den weltweit ansonsten unerreichten Grad der japanischen Eisenbahn heben. Das dürfte allein schon kulturell bedingt kaum machbar sein.

Trotzdem hat die Bahn mit dem Programm »S-Bahn Plus« deutliche Erfolge erzielt. Waren im ersten Halbjahr 2017 auf den Ringbahnlinien nur 92,2 Prozent aller Züge pünktlich, lag die Quote im ersten Halbjahr 2019 bei 95,4 Prozent. Auf das Gesamtnetz bezogen lag die Pünktlichkeit in den ersten sechs Monaten bei 96,1 Prozent, und damit wurde erstmals seit Längerem die im Verkehrsvertrag geforderte Quote eingehalten. Im Juli und August waren sogar fast 97 Prozent aller Züge pünktlich, was laut Definition bedeutet, dass sie unter vier Minuten Verspätung haben dürfen. Japan ist also weit. Auch die ausgefallenen Fahrten sind im Vergleich der ersten acht Monate diesen Jahres mit 2018 um ein Drittel zurückgegangen, die Fahrzeugstörungen um fast ein Viertel, Signalstörungen um immerhin zwölf Prozent. »Was wir nicht beeinflussen können, sind die Fremdeinwirkungen«, erklärt Kaczmarek und gibt gleich ein Beispiel: »Menschen, die meinen ihre Notdurft im Gleis verrichten zu müssen.« Um elf Prozent ist die Zahl der Eingriffe von außen in den Bahnverkehr gestiegen.

Zu dem Termin hat die Bahn am Donnerstagvormittag in das unweit des Bahnhofs Lichtenberg gelegene S-Bahnbetriebswerk Friedrichsfelde geladen. 2006 wurde es stillgelegt, weil die damalige Geschäftsführung es für entbehrlich hielt. Nach dem kurzzeitigen Zusammenbruch des S-Bahnverkehrs 2009 und der seitdem anhaltenden Krise wurde es 2010 hastig wieder in Betrieb genommen. Es wurden 23,2 Millionen Euro investiert. »In den Werkstätten braucht man Luft zum Atmen«, sagt Peter Buchner, seit 2009 Chef der S-Bahn Berlin. Er meint damit Kapazitätsreserven für immer wieder nötige Umbauprogramme an den Fahrzeugen und falls wegen Bauarbeiten Wartungsstandorte vom Netz abgeschnitten sind. Planmäßig werden vier der fünf Werke für zusammengenommen drei Monate im Gesamtjahr 2019 deswegen nicht zur Verfügung gestanden haben. Das ist ein wenig dezenter Wink angesichts der anstehenden Ausschreibung der S-Bahnteilnetze Nord-Süd und Stadtbahn, bei der die Verkehrsverwaltung unabhängiger von der Deutschen Bahn werden möchte. Bisher gibt es für eine neue konzernunabhängige Werkstatt nur ein geeignetes Grundstück im Eigentum des Landes Berlin nahe dem Bahnhof Blankenburg. Bis November müssen sich die drei Koalitionspartner SPD, LINKE und Grüne auf ein Konzept einigen, um nicht erneut wegen verspäteter Ausschreibungen den Betrieb zu destabilisieren. Doch eine Einigung scheint noch nicht in Sicht.

Bei der letzten Befragung im Mai ist die Kundenzufriedenheit mit der S-Bahn auf eine Gesamtnote von 2,52 wieder leicht gestiegen, im November lag sie noch bei 2,63. »Wenn das Gesamtsystem im ÖPNV funktioniert, ist die Stimmung besser. Wenn es nicht so gut funktioniert, geht es bei uns runter, damit müssen wir leben«, macht Kaczmarek einen Seitenhieb auf die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Dort ist die Situation geprägt durch Personal- und Wagenmangel.

Für die U-Bahn ist wegen des laufenden Rechtsstreits um bis zu 1500 neue Fahrzeuge die Perspektive besonders dramatisch. Im November ist ein erster Verhandlungstermin für die Klage des unterlegenen Bieters Alstom angesetzt. Vor 2022 ist die Lieferung neuer Züge damit inzwischen praktisch ausgeschlossen. Somit müsste die Verfügbarkeit der überalterten Bestandsflotte erhöht werden. »Ich höre nichts von den zuständigen Senatsverwaltungen, wie man der BVG helfen kann«, sagt Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastverband IGEB. »Es braucht ein Programm ›U-Bahn Plus‹, um den Betrieb zu sichern«, fordert er. Auch die S-Bahn könnte in seinen Augen noch mehr tun, vor allem beim Störungsmanagement. Er zweifelt auch, ob die für Gleise und Signale verantwortliche DB Netz AG genug Aufwand bei Personal und Investitionen treibt. »Ich bin mir nicht sicher, ob DB Netz zur Kenntnis nimmt, dass die Berliner S-Bahn zehn Prozent des Zugverkehrs in Deutschland abwickelt«, erklärt er.

Tilmann Heuser, Geschäftsführer des Umweltverbands BUND Berlin mahnt schnelle Maßnahmen für eine Qualitätsverbesserung im Nahverkehr der Hauptstadt an. »Verbindlichkeit und Verlässlichkeit sind das Entscheidende, wenn man die Mobilitätswende voranbringen will«, sagt er.

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