Scheidung im Unfrieden

Die Europäische Union und der britische Premier Boris Johnson haben einiges gemeinsam, meint Peter Wahl

  • Peter Wahl
  • Lesedauer: 4 Min.

»So enden Demokratien«, klagt die »Zeit« über die Praktiken von Boris Johnson beim Brexit - und bis in Teile der Linken hinein schließen sich viele mit mehr oder minder dramatischem Tremolo an. Richtig ist: Mit einer Trickserei versucht er, das Unterhaus für fünf Wochen zu suspendieren, um die weitere Blockade bei der Umsetzung des Brexit zu verhindern. Doch die Johnson-Kritiker unterschlagen, dass das Land vor drei Jahren für den Ausstieg aus der EU votierte. Davor lief eine Debatte mit seriösen Argumenten Pro und Kontra Brexit und natürlich auch mit Demagogie und Fake News. Aber trotz des eindeutigen Ergebnisses versuchen die Brexit-Gegner im Parlament seither, die Entscheidung wieder zu kippen. Wichtigste Kraft sind dabei die Blairisten in der Labour Party. Zur Erinnerung: Tony Blair war Vorreiter bei der Neoliberalisierung der Labour Party und Trommler für George W. Bushs Irak-Krieg.

In Brüssel reibt man sich indessen klammheimlich die Hände. Denn der EU ist es gelungen, mit dem »Back Stop« eine Klausel in den Ausstiegsvertrag einzubauen, die nicht nur eine harte Grenze zu Irland vermeiden soll. Das ist unumstritten. Der Knackpunkt ist die Festlegung, dass das Land solange in der Zollunion bleiben muss, bis die Grenzfrage gelöst ist. Das schränkt die Möglichkeiten Londons drastisch ein, Alternativen zu den Wirtschaftsbeziehungen mit der EU zu entwickeln. Machtpolitisch gibt es Brüssel einseitig einen Hebel in die Hand, unbegrenzt auf Zeit zu spielen, bis die Briten irgendwann so zermürbt sind, dass sie eine Regierung wählen, die den Brexit kassiert.

Es ist wie bei einer Scheidung im Unfrieden: Der Verflossenen soll das zukünftige Leben so schwer wie möglich gemacht werden. Mit Großbritannien scheidet nicht nur die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU aus, sondern auch eine Atommacht und ein permanentes Sicherheitsratsmitglied - und das in einer historischen Situation, in der sich die Funktionseliten in Brüssel, Berlin und Paris geradezu nach Weltmachtstatus verzehren. Es soll deshalb ein Exempel statuiert werden, damit niemand je wieder auf die gleiche Idee kommt.

Klar, Johnson ist undemokratisch, neoliberal, skrupellos und von dünkelhafter Selbstüberschätzung zerfressen - genau wie die EU. So ignoriert sie ein Referendum, wenn ihr das Ergebnis nicht passt, wie in Griechenland 2015, als das neoliberale Austeritätsprogramm der Troika abgelehnt wurde. Bei mächtigeren Ländern geht man raffinierter vor: Als Franzosen und Holländer 2005 die EU-Verfassung ablehnten, wurde diese einfach gegen den Lissabon-Vertrag ausgetauscht. Als die Iren auch den ablehnten, wurde eine zweite Abstimmung angesetzt und ein Jahr später das passende Ergebnis erzielt. Fassadendemokratie nennt Jürgen Habermas das treffend.

Man kann in demokratietheoretischen Debatten an Volksabstimmungen so manches problematisch finden, ebenso wie man die Defizite der repräsentativen Verfahren kritisieren kann. Aber in jedem Fall undemokratisch ist es, sich per Rosinenpickerei das eine oder das andere herauszusuchen - je nach dem, was gerade ein genehmes Ergebnis verspricht.

Was ist mit der Linken? Labour-Chef Jeremy Corbyn steckt in einem Dilemma. In den abgehängten Regionen Englands haben 40 Prozent der Labour-Klientel für den Brexit gestimmt, im ganzen Land waren es 30 Prozent. Eine Mehrheit der Fraktion und Teile der Partei sind pro EU. Corbyn selbst ist immer EU-Gegner gewesen. Er weiß, dass ein Großteil seines Programms - darunter die Rückgängigmachung der Privatisierung wichtiger Infrastrukturen - unter EU-Bedingungen vertragswidrig sind. Auch wenn Großbritannien - anders als Griechenland - nicht so leicht erpressbar ist: Eine wirkliche Alternative zum Neoliberalismus bekommt er nur hin ohne die Fesseln der Verträge. Mit Nationalismus hat das nichts zu tun.

Corbyn an der Spitze des Post-Brexit Landes aber fürchtet die EU mehr als alles andere. Deshalb gibt es Chancen, dass kurz vor Toresschluss noch ein Kompromiss beim »Back Stop« kommt. Merkel und Macron haben so was angedeutet.

A propos Macron. Vor seinen Botschaftern sagte der französische Präsident: »Was die Brexiteers dem britischen Volk vorgeschlagen haben war eine sehr gute Parole: wieder die Kontrolle über unser Leben, unsere Nation zurückzugewinnen. So müssen wir denken und handeln in einer offenen Nation. Die Kontrolle zurückgewinnen.« Von wegen »Die spinnen, die Briten!«

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