Wie Kriege gemacht werden

Notizen von zwei wissenschaftlichen Konferenzen anläßlich des Antikriegstags in Berlin

Es ist unglaublich, dass 80 Jahre nach der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges dessen Hintergründe, Ursachen, Verbrechen und Folgen in Deutschland umgeschrieben, verharmlost oder gar verherrlicht werden. Ebenso beschämend für den angeblichen »Weltmeister in Geschichtsaufarbeitung«, wie die Bundesrepublik im Ausland vielfach gelobt wird, ist Unwissen. Der Historiker Martin Seckendorf stieß jüngst im Internet auf einen anonymen Kommentar, in dem behauptet wurde: »Hätten die Polen Gleiwitz nicht überfallen, hätten sie nicht dieses Leid erdulden müssen.« Die fingierte SS-Aktion »Unternehmen Tannenberg« am Abend des 31. August 1939 hatte zur Rechtfertigung des deutschen Überfalls auf Polen gedient. Am 1. September tönte Hitler dann im Reichstag: »Ab 5.45 Uhr wird zurückgeschossen.«

Der Verein Berliner Freunde der Völker Russlands hatte zur Konferenz ins Russische Haus in der Friedrichstraße geladen. Horst Schützler, langjähriger Vorsitzender des Vereins, lobte einleitend die Rede von Günter Morsch am 8. Mai dieses Jahres im Potsdamer Landtag als »sehr bemerkenswert«. Der ehemalige Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen und Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten hatte Tendenzen in der Politik angeklagt, Geschichte für tagesaktuelle Entscheidungen zu instrumentalisieren. Schützler seinerseits kritisierte den Beschluss des EU-Parlaments von 2009, der den 23. August - also jenen Tag, an dem 1939 der sogenannte Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet worden war - zum europaweiten »Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime« erhob. Dies sei »Ausdruck einer neuen europäischen Erinnerungskultur, die primitive Russophobie bedient«. Er wolle die Bedeutung des von ihm historisch exakt als Deutsch-Sowjetischer Nichtangriffsvertrag oder auch als Ribbentrop-Molotow-Pakt bezeichneten Abkommens nicht leugnen, doch könne weder Stalin noch der damaligen sowjetischen Führung die Schuld an sechs Jahren Terror, Leid und Millionen Opfern zugeschoben werden, so Schützler, langjähriger Geschichtsprofessor an der Humboldt-Universität.

Seckendorf schilderte in der Folge die konkreten Schritte der Hitler-Diktatur zur Vorbereitung des Eroberungs- und Vernichtungskrieges. Dazu gehörten unter anderem der öffentlich am »Tag von Potsdam«, am 21. März 1933, bekundete »Schulterschluss« mit der Reichswehrführung, der Austritt Deutschlands im Oktober 1933 aus dem Völkerbund sowie die Einführung der Wehrpflicht. Die gemeinsame deutsch-polnische Erklärung vom 26. Januar 1934 - »unterhalb des Vertragsniveaus, jedoch von bündnisähnlichem Charakter« - sei ein »schwerer Schlag gegen das System der kollektiven Sicherheit« gewesen und habe Polen »internationale Isolierung und essenzielle innenpolitische Nachteile« gebracht. Die Nazis konnten eine »Fünfte Kolonne« aufbauen: »Wir hatten ausreichend Gelegenheit, die polnische Armee zu studieren«, wie es der Generalstabschef des Heeres Franz Halder ausdrückte. Seckendorf betonte, dass Polen Moskauer Angebote für Beistand und militärische Unterstützung im Fall eines deutschen Überfalls stets abgelehnt habe - aus Antikommunismus und Antisemitismus.

Eckhard Mehls, gleichfalls ehemaliger Professor der Humboldt-Universität, bestätigte, dass die Sowjetunion für Warschau »Feind Nummer 1« gewesen sei - einerseits als Nachfolger der einstigen Teilungsmacht Russland, andererseits wegen des polnisch-sowjetischen Krieges 1919 bis 1921. Er skizzierte das in Polen dominierende, von der heutigen Regierungspartei PiS diktierte Geschichtsbild, das eine Wesensgleichheit von Kommunismus und Faschismus suggeriere und den Zweiten Weltkrieg für Polen erst mit dem Jahr 1989 enden lässt. Eine sich selbst »alternativ« anpreisende Geschichtsschreibung vertrete die Auffassung, dass bei Erfüllung der deutschen Forderungen an Polen 1939 dem Land eine »vierte Teilung« erspart geblieben wäre.

Über Inhalt, Folgen und Rezeption des Ribbentrop-Molotow-Paktes in der heutigen Russländischen Föderation referierte Schützler ausführlicher. Zustande gekommen nachdem die Westmächte alle Bündnisangebote des Kremls ausgeschlagen hatten, habe der Vertrag zwischen Berlin und Moskau »die internationale kommunistische Bewegung in schwere Bedrängnis« gebracht. In der russischen Historiografie stünden sich zwei Interpretationen gegenüber: einerseits eine national-konservative, sich auf die sowjetische Historiografie stützende Richtung, die den Vertrag von 1939 nicht als Freundschaftsbekundung oder Gesinnungsgleichheit interpretiert, sondern als ein notgedrungenes taktisches Manöver; andererseits eine revisionistisch-liberale Richtung, die weitgehend mit der im Westen dominierenden Wertung des Paktes übereinstimmt. Dazu Schützler: »Nochmals: Nicht Stalin hat den Zweiten Weltkrieg ausgelöst, Hitler trägt die Verantwortung.« Eine 2012 gegründete Russische Militärhistorische Gesellschaft strebe derzeit eine Revision der Beschlüsse des Obersten Sowjets von 1988 an, die den Vertrag, insbesondere das Geheime Zusatzprotokoll, verurteilt hatten.

Über die Haltung Großbritanniens vor dem Zweiten Weltkrieg referierte dann auf einem Kolloquium des Berliner Vereins Helle Panke Reiner Zilkenat, Mitglied des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Obwohl nach dem Ersten Weltkrieg als politische und ökonomische Führungsmacht von den USA abgelöst, kam dem Vereinigten Königreich eine Schlüsselrolle zu. Jedoch setzte man in der Londoner Downing Street auf Appeasement statt auf ein System der kollektiven Sicherheit. Das Deutsch-Britische Flottenabkommen, das Münchener Abkommen, Tatenlosigkeit bei der »Heimholung« genannten Annektion Österreichs, bei der Zerschlagung der ČSR und schließlich beim Überfall auf Polen machten die seinerzeitige britische Regierung mitschuldig. Zilkenat berichtete zudem über große Sympathien, vor allem im britischen Adel, für Hitler. Die Anglo-German Fellowship, eine 1935 gegründete pronazistische Gesellschaft, organisierte Reisen nach Deutschland sowie Gespräche mit Hitler, Himmler, Göring und Ribbentrop. Premierminister David Lloyd George pries 1934 im Unterhaus Deutschland als »Bollwerk gegen den Kommunismus in Europa«. Und der britische Botschafter in Berlin, Nevile Henderson, nannte am 15. März 1939, am Tag, als die Wehrmacht in Prag einrollte, den Drang Deutschlands nach Osten eine Realität: »Und er ist vielleicht gar nicht so schlecht.«

Mit den Worten »Unschuld sieht anders aus« kommentierte Stefan Bollinger die strikte polnische Ablehnung aller sowjetischen Offerten am Vorabend des Krieges sowie Polens Beteiligung an der Zerschlagung der ČSR mit territorialen Einverleibungen. Den Nichtangriffsvertrag mit Deutschland habe Moskau zur Verhinderung eines Zwei-Fronten-Krieges abgeschlossen; zu gleicher Zeit hatte die Sowjetunion eine japanische Offensive am Chalchin Gol in Fernost abwehren müssen. »Dennoch: Sozialistische Politik hätte anders aussehen müssen.« Die Auslieferung von Juden und Kommunisten an Nazideutschland nach Paktabschluss sowie das Massaker von Katyn nannte Bollinger »verbrecherisch«. Zugleich verwies er auf die gesellschaftlichen Umwälzungen in Ostpolen nach dem Einmarsch der Roten Armee am 17. September 1939, die von Millionen Polen hoffnungsvoll mitgetragen worden seien. Hinsichtlich aktueller Forderungen aus Warschau nach einem Memorial für polnische Opfer des Zweiten Weltkrieges verwies er auf das seit 1972 im Berliner Friedrichshain stehende Denkmal für polnische Soldaten, Widerstandskämpfer, KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter.

Daniela Fuchs, wie Bollinger Mitglied der Historischen Kommission der Linkspartei, rechnete jüngste polnische Reparationsforderungen an Deutschland dem Wahlkampf in Polen zu; am 13. Oktober werden Sejm und Senat gewählt. Die Berlinerin, die in Wrocław Geschichte studiert hatte, erinnerte an die 1,5 Millionen polnischen Männer, Frauen und Kinder, die nach Kriegsausbruch nach Kasachstan und Sibirien deportiert wurden. Kritisch setzte sie sich mit der Demontage von Denkmälern aus realsozialistischer Zeit in Polen auseinander, die einhergehe mit der Verehrung der »verstoßenen Soldaten«, wie einst gegen die Nazis und danach die Kommunisten bekämpfende Nationalisten genannt werden. Fuchs forderte das Publikum der Hellen Panke auf, nach Polen zu reisen, mit den Menschen vor Ort zu sprechen und sich gute Nachbarschaft von niemandem kaputt machen zu lassen.

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