Die neue Demut

Langer Weg zu alten Erfolgen: Beim 2:0 der deutschen Fußballer in Nordirland stimmte nur das Ergebnis

  • Frank Hellmann, Belfast
  • Lesedauer: 4 Min.

Joachim Löw sah abgekämpft aus. Möglich, dass die grelle Beleuchtung im kleinen Pressesaal des Windsor Park von Belfast ihr Übriges tat, dass der Bundestrainer nach dem 2:0-Arbeitssieg der deutschen Nationalmannschaft in Nordirland nicht mehr ganz so frisch wirkte. Und die müden Augen blickten auch nicht auf die nordirischen Heldentaten, die an den Wänden hingen: etwa der in einer eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Aufnahme verewigte Moment, als Gerry Armstrong bei der WM 1982 die »Green And White Army« zum Siegtor gegen Gastgeber Spanien schoss.

Nach der durch einen schönen Dropkick von Marcel Halstenberg (48.) und einen schnellen Konter von Serge Gnabry in der Nachspielzeit besiegelten 0:2-Heimniederlage gegen Deutschland sieht es so aus, dass Nordirland mal wieder ein großes Turnier verpasst. Eher formal handelt es sich noch um einen Dreikampf in der Gruppe C, aus der am Ende die Fußballgroßmächte Niederlande und Deutschland die Tickets zur Endrunde der EM 2020 lösen dürften.

Löws Ensemble hat den Anspruch mit einem nur bedingt überzeugenden Arbeitssieg untermauert. Doch ein »souveräner Sieg«, den Ballverteiler Toni Kroos gesehen haben wollte, geht anders. Zur Absicherung brauchte es einen Manuel Neuer in Topform, der beinahe schon wieder an den Weltmeister-Torwart von 2014 erinnert - weil er mit Hand, Fuß und anderen Körperteilen zur Stelle ist, wenn die Vorderleute mit einer zu laxen Haltung haarsträubende Fehler einstreuen. »Das war ein ganz wichtiges Spiel für uns«, erklärte der 33-jährige Kapitän, »es war schon zu merken, dass wir unter Druck standen.«

Löw hatte »sehr intensive, sehr schwierige 90 Minuten« gesehen. Bei seinen Ausführungen wirkte er wie ein Belfast-Tourist, der im St. George’s Market nicht mehr den Ausgang findet: So überbordend dort das Angebot, so üppig die Schwankungsbreite seiner Mannschaft, die sich anfangs vor dem singenden und stampfenden Publikum den Schneid abkaufen ließ, weil die Verbindung zwischen Mittelfeld und Angriff in dem 4-3-3-System nicht funktionierte. Erst eine veränderte Raumaufteilung führte nach der Pause zum erwarteten spielerischen Übergewicht. Unter dem Strich, bilanzierte der 59-Jährige, »zählen drei Punkte in der Quali, das haben wir erreicht«.

Aber: Dass seine Auswahl noch nicht so weit ist, wie im Frühjahr nach dem 3:2-Erfolg in den Niederlanden gedacht, dafür mehren sich die Indizien. »Der Weg in die Spitze ist kein einfaches Unterfangen. Wir haben noch einige Monate Zeit und noch einige Länderspiele. Im nächsten Jahr wird sich zeigen, wo wir stehen«, konstatierte Löw. Das Freundschaftsspiel gegen Argentinien am 9. Oktober könnte ebenso noch Fingerzeige liefern wie die letzten Qualifikationsspiele danach in Estland, gegen Belarus und erneut Nordirland.

Verräterisch war Löws Bemerkung, dass Holland drei Jahre gebraucht habe, um den aktuellen Leistungsstand zu erreichen: »Da müssen wir noch hinkommen.« Das würde heißen, dass die EM 2020 für seinen Erneuerungsprozess fast zu früh kommt. Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff ist so klug, die Zielvorgabe auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu verorten: »Ich glaube nicht, dass wir zum engsten Favoritenkreis gehören. Du kannst zum Erfolg keine Abkürzung nehmen.« Löw sprach von »verschiedenen Faktoren«, die das Abschneiden bei einem Turnier beeinflussen würden.

Fußballästhet Löw vergleicht den Neuaufbau inzwischen gerne mit den Vorarbeiten zur WM 2010. Damals drängte allerdings die außergewöhnlich talentierte Özil-Khedira-Hummels-Neuer-Generation nach. Der Nachweis, dass die Werner-Kehrer-Tah-Goretzka-Jahrgänge ähnliche Anlagen mitbringen, steht noch aus. Selbst der willensstarke Joshua Kimmich muss trotz aller Ansprüche erst noch zeigen, dass der er führen kann wie Philipp Lahm. Kimmichs Rückversetzung auf die Rechtsverteidigerposition schloss Löw übrigens aus. Der Musterschüler bleibe auf der Sechs, weil er für die »Symmetrie vor der Abwehr« sorge.

Trotzdem sah es in der Hauptstadt Nordirlands lange recht asymme-trisch aus. Erstaunlich, dass Löw beharrlich das Fehlen von Antonio Rüdiger, Thilo Kehrer, Julian Draxler, Leon Goretzka und Leroy Sané vortrug, um die Unwucht zu rechtfertigen. »Man hat in manchen Phasen gesehen, dass die Mannschaft so noch nicht zusammengespielt hat.« Aber macht es wirklich so einen großen Unterschied, ob nun Lukas Klostermann für Kehrer, Jonathan Tah für Rüdiger oder Julian Brandt für Draxler spielt? Nur der am Kreuzband verletzte Sané besitzt eine Klasse mit Alleinstellungsmerkmal. Manche Argumente klangen von Trainerseite an diesem windigen Abend ein wenig vorgeschoben. Aber auch das kann ja beim Umbruch irgendwie dazugehören. Oder einfach der Müdigkeit nach einem anstrengenden Nordirland-Trip geschuldet sein.

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