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»Einfach kopieren dürfen wir die Natur nicht«

Wo die Chancen und Grenzen der Bionik, des Abschauens technischer Kniffe bei der Natur, liegen

  • Lesedauer: 4 Min.
Über 150 Forscherteams beteiligten sich am Ideenwettbewerb des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) »Bionik - Innovationen aus der Natur«. Sechs von ihnen wurden Ende Juni mit einem Fördergeld von insgesamt rund 3 Millionen Euro ausgezeichnet.Was Bionik eigentlich ist und wo die Grenzen des Abkupferns bei der Natur liegen, das erklärt Werner Nachtigall unserem Autoren Walter Schmidt. Bis 2002 war der inzwischen 73-jährige Bioniker Professor an der Universität Saarbrücken.
ND: Können Bioniker bei der Natur einfach abkupfern?
Nachtigall: Eben nicht, denn die Natur liefert keine Blaupausen. Kopieren können wir sie nicht, aber als Bioniker kann man natürliche Prinzipien übertragen, denn diese können mit technischen Prinzipien identisch sein - zum Beispiel eine Haken-Ösen-Kopplung oder ein Körper geringen Luft- oder Wasserwiderstands. Dahinter stecken physikalische Bedingungen, welche die Natur genauso beherrschen wie die Technik.

Warum führt ein exakter Nachbau leicht in die Irre?
Weil die Natur andere Probleme bewältigen muss und dabei mit anderen Größen und Materialien arbeitet. Ein Beispiel sind freitragende Dächer nach dem Vorbild etwa von Insektenflügeln. Wenn wir Menschen so etwas bauen, müssen wir technische Folien und Spanten einsetzen. Natürliche Materialien wären für derart große Spannweiten nicht ausgelegt. Aber das Prinzip, zwischen Trägern eine sehr leichte Haut zu spannen, ist ein übertragbares, bionisches Prinzip.

Warum macht die Natur das so?
Vor allem, um Material und Energie einzusparen, und zwar von der Konstruktion über den Aufbau bis hin zum Recycling von Baustoffen.

Wenn sie nicht kopieren dürfen, was tun Bioniker stattdessen?
In drei Stufen: Erstens müssen sie erkennen, wie ein natürliches Vorbild funktioniert, dann müssen sie davon abstrahieren, also das übertragbare Konstruktionsprinzip ausfindig machen, und schließlich müssen sie es technisch oder chemisch umsetzen.

Inwiefern arbeitet die Natur bei ihrer Art des Erfindens anders als beispielsweise Ingenieure?
Die Natur findet immer Kompromiss-Lösungen - was die Technik in dieser Form bisher eher selten gemacht hat. Meist wird jedes Bauteil oder Element von einem speziell geschulten Ingenieur konstruiert. Beim Bau eines Autos entwirft der eine die Reifen, der andere die Achslager, wieder andere machen das Auto windschnittig. In der Natur aber wird durch Versuch und Irrtum alles verworfen, was sich gegenseitig stört, etwa weil ein Körperteil darunter litte, wenn das benachbarte Körperteil maximal groß oder zu schwer gerä. Die Evolution ist also eine Art Oberaufseher über den Konstruktionsprozess. Das bekommt die Technik oft noch nicht so hin, schon weil die Ausbildung noch eher zu Spezialisten führt.

Welche besonders faszinierenden Perspektiven für die Bionik sehen Sie?
Im Wesentlichen drei: Erstens wird alles, was mit Oberflächen zu tun hat, in Zukunft sehr auf die Natur ausgerichtet sein - ganz gleich, ob es hier um selbstreinigende oder um bewuchsabweisende Oberflächen geht. Oder um solche, die aufgrund von winzigsten Noppen Lichtspiegelungen verhindern, nach dem Vorbild der Augen von Nachtfaltern.
Zweitens wäre es äußerst reizvoll, die sehr komplizierte Photosynthese nach dem Vorbild grüner Pflanzen chemisch so abzuwandeln, dass mit Hilfe des Sonnenlichts Wasserstoff abgespalten wird, der sich auffangen und als Brennstoff nutzen ließe. Das wäre eine Form solarer Wasserstofftechnologie.
Drittens sollten wir von der Natur lernen, wie sich komplexe Systeme steuern und regeln lassen. Das macht die Natur perfekt, wenn man etwa an Fisch- oder Vogelschwärme denkt, in denen Einzeltiere nie aneinander stoßen, auch wenn sie blitzartig wenden. Das ließe sich womöglich zum Regeln dichten Verkehrs und zum Wahren eines optimalen Abstands nutzen.

Inwiefern muss ein Bioniker auch ein Artenschützer sein?
Dazu wird man automatisch - einfach aus der Erkenntnis, dass es nicht sehr sinnvoll ist, Dinge zu vernichten, die man noch nicht kennt. Wer den Regenwald rodet, zerstört vielleicht gerade jene Tier- und Pflanzenarten, von denen wir noch etwas lernen könnten und auf die gerade die Pharma-Industrie ganz wild ist. Am Amazonas auf früheren Waldflächen Rinder für Hamburger zu halten, statt die von Natur aus dort wachsenden Pflanzen auf Inhaltsstoffe zu untersuchen, ist eigentlich zum Lachen komisch - wenn es nicht zum Weinen wäre.

Wobei haben Sie sich zuletzt von der Natur inspirieren lassen?
Nach meinen Messungen sind Wasserkäfer-Rümpfe hervorragende Vorbilder für Riesen-U-Boote, mit denen sich Handelsgüter von Kontinent zu Kontinent transportieren ließen, fernab der Wasseroberfläche mit ihren Stürmen und anderen Störungen. Das muss allerdings noch mit Großmodellen an einer hydrodynamischen Versuchsanstalt weiteruntersucht werden.
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