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Überschätzen wir die Macht der Gene?

Warum Zwillinge der Traum aller Genforscher waren – und was sie uns wirklich über Erziehung, Umwelt und Selbstbestimmung verraten

Alice (r.) und Ellen Kessler bei einer Online-Versteigerung ihrer Bühnenoutfits im Jahr 2022 zugunsten von Betroffenen der Flutkatastrophe im Ahrtal.
Alice (r.) und Ellen Kessler bei einer Online-Versteigerung ihrer Bühnenoutfits im Jahr 2022 zugunsten von Betroffenen der Flutkatastrophe im Ahrtal.

Steffen, die Kessler-Zwillinge sind nach 89 Jahren des Zusammenlebens gemeinsam durch begleitete Sterbehilfe aus dem Leben geschieden. Überrascht dich dieser Schritt?

Nein, ehrlich gesagt nicht. Das machen manche Menschen, die einfach alt sind und spüren, dass sie die Hoheit über ihre Verhältnisse verlieren könnten. Ich finde das nicht ungewöhnlich. Dass dieses Gefühl bei eineiigen Zwillingen, die ihr Leben lang so eng zusammengelebt haben, beide gleichermaßen beschleicht, ist fast logisch. Man sollte da nicht vorschnell moralisch urteilen.

Welche Rolle spielten Zwillinge in der Forschung?

Lange dienten sie nur zur Klärung der Frage: Bestimmen die Gene oder die Umwelt, wie wir sind? Viele Forscher sehen da zu 50 Prozent die Gene, zu 50 Prozent den Rest am Werk. Wobei die Verhaltensgenetik oft auf wackligen Füßen stand. Sie breitete sich besonders dort aus, wo man an die Macht der Gene glaubte – sei es für überlegene Intelligenz, sei es für kriminelles Verhalten. Das war in den USA und Skandinavien schon früh ausgeprägt. Schweden hing bis in die 1970er Jahre Theorien an, dass »asoziales« Verhalten genetisch bedingt sei. Das fing nicht erst bei den Nazis an. Die allerdings machten dann eine genetische »Begründung« für Massenmord daraus.

Heute sind wir da hoffentlich weiter.

Ja, heute schaut man eher auf Krankheiten. Sind Zivilisationskrankheiten umweltbedingt oder genetisch? Aber selbst bei eineiigen Zwillingen gibt es Unterschiede. Studien zeigen: Es gibt keine Zwillinge mit identischem Gehirn. Da Verhalten über das Gehirn läuft, sind die Unterschiede größer, als wir auf den ersten Blick wahrhaben wollen.

Ein Mythos hält sich hartnäckig: Die Zwillings-Telepathie. Dass der eine spürt, wenn der andere Schmerz empfindet.

Der Kern ist extreme Vertrautheit durch das enge Zusammenleben, aber Telepathie halte ich für ein Gerücht. Das gibt es auch bei alten Ehepaaren, die genetisch nicht verwandt sind. Die fangen einen Satz an und der andere beendet ihn, weil sie auf einer Wellenlänge funken. Ein Außenstehender versteht nur Bahnhof. Aber echte Gedankenübertragung? Das bleibt Science-Fiction.

Gab es dazu keine Versuche?

Oh doch. Im Kalten Krieg haben KGB und CIA einiges in parapsychologische Forschung gesteckt. Die glaubten zeitweilig an alles. Filme und Romane zeugen davon. Vielleicht ist der Glaube an Löffelverbiegerei eher etwas für große Länder mit weiten Ebenen (lacht).

Echt? Esoterik im Sozialismus?

Denk an die Zeitschrift »Sputnik«! Die wurde bei uns 1988 verboten, wegen der Geschichte über den Hitler-Stalin-Pakt. Aber wenn man ehrlich ist: Der »Sputnik« war auch voll mit parawissenschaftlichem Unsinn, Ufologie und Telekinese. Das wäre für die SED-Granden ein besserer Vorwand gewesen, das Glasnost-Blatt aus dem Verkehr zu ziehen.

Überschätzen wir im Alltag die Macht der Gene oder die der Erziehung?

Das hängt davon ab, wen du fragst. Der Realsozialismus hatte ja auch diese Überzeugung, man könne einen »neuen Menschen« allein durch Erziehung formen, völlig unabhängig von der Biologie. Bekanntermaßen ist das nicht so richtig gelungen. Ob das nun an den Genen lag oder daran, dass die Erziehungsmethoden falsch waren, steht auf einem ganz anderen Blatt.

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