Zwischen Nazis aufwachsen: Meine Jugend im Ost-Berliner Plattenbau

Unsere Autorin schämt sich für ihre Herkunft. Doch was sie in der Platte auch gelernt hat: Rechts sein ist kein Schicksal, sondern eine Entscheidung.

  • Xenia Wenzel
  • Lesedauer: 8 Min.

»Meine Stadt, mein Bezirk, mein Viertel, meine Gegend
Meine Straße, mein Zuhause, mein Block
Meine Gedanken, mein Herz, mein Leben, meine Welt
Reicht vom ersten bis zum sechzehnten Stock«

- Sido, »Mein Block«

Als Sido 2004 »Mein Block« herausbrachte, lebte ich selbst nicht mehr in einem. Die langen 13 Jahre Plattenbau hafteten aber immer noch wie eine Krake an mir. Meine Gefühle zu dem Song bewegen sich irgendwo zwischen Belustigung, Abwehr, Scham und Genervtheit.Wenn ich Leuten erzähle, dass ich aus Berlin komme, wollen sie es immer ganz genau wissen. Wenn ihnen die bloße Angabe »Ost-Berlin« nicht reicht, fange ich an, rumzustottern. Ich weiche aus und merke, dass ich mich für meine Herkunft schäme. Hellersdorf-Marzahn: Das bedeutet für Viele Platten, Nazis und sozialer Abstieg. Und ja: Dieser Ost-Berliner Randbezirk hatte schon immer ein Problem mit Rechten. Heute wählen dort um die 20% die AfD. Auch wenn ich schon lang nicht mehr dort lebe, habe ich immer noch Angst, für meine Herkunft abgestempelt und abgewertet zu werden. Dass ich meine Kindheit und Teile meiner Jugend zwischen Hochhäusern und Skinheads verbracht habe, eröffne ich meinem Gegenüber daher erst ab einem bestimmten Vertrauenslevel.

Eine Wohnung in der Platte mit Zentralheizung, eigenem Klo und Warmwasser machte da schon was her

Meine Familie zog 1989 von Potsdam nach Berlin-Hellersdorf. Als frisch gebackener Staatsbediensteter der Deutschen Demokratischen Republik bekam mein Vater für seine Familie eine schnieke neue Plattenbauwohnung am Rande Berlins zugewiesen. Damals waren die Neubauwohnungen ein Luxus, ließ doch die DDR ihre Altbausubstanzen wie im Prenzlauer Berg eher verfallen. Eine Wohnung in der Platte mit Zentralheizung, eigenem Klo und Warmwasser machte da schon was her. Außerdem waren hier alle gleich. Es war egal, ob du Professor*in, Schweißer*in oder Lehrer*in warst, hier wohnten alle im selben Block. Im Hof gab es Spielplätze, die Kaufhalle war gleich um die Ecke, die weiten Wiesen Brandenburgs auch.

In den letzten Monaten der DDR schien das Leben meiner Familie noch behütet und eine sonnige Zukunft stand uns bevor mit Vater als Diplomat und Mutter als Russischlehrerin Meine Eltern waren nicht am Grenzübergang feiern, als die Mauer fiel. Sie ahnten wohl schon, was dieser Umschwung für ihre Karrieren und ihr Leben bedeuten würde. Das Ministerium meines Vaters wurde bis zur Wiedervereinigung abgewickelt, Russischlehrende brauchte man nicht mehr. Meiner Mutter standen so trotz Hochschulabschluss mehrere Jahre Arbeitslosigkeit und Umschulungen bevor, meinem Vater auf Grund seines politischen Studiums der Abstieg in die Prekarität. Die befreundeten Paare meiner Eltern und Alle, die irgendwie auf eine bessere Zukunft woanders hofften, zogen nach und nach weg. Zurück blieben diverse Subkulturen, Nazis, Abgehängte, Normalos und viel soziale Kälte.

Die Nachbarn schlugen gegen die Heizung bis ich ruhig war

Ich fand es richtig schlimm, im Plattenbau aufzuwachsen. Die Wohnungen waren klein, beengend, die Decken niedrig, die Wände dünn. Meine Kinderzimmer, die nie größer waren als zehn Quadratmeter, versprühten mit ihren klappernden Kunststofftüren und den hässlich grauen Heizungsrohen kein Gefühl der Wohnlichkeit. Ein fettes Klavier oder die hauseigene Bibliothek hätten in einer solchen Wohnung keinen Platz gehabt. Ständig hatte man das Gefühl, man musste leise und unauffällig sein, weil alles so hallte. Das konnte auch die famose Durchreiche nicht wettmachen. Wenn ich mal wieder lauthals meine Lieblingssongs in meinem Zimmer grölte, mahnten meine Eltern mich panisch zur Ruhe und die Nachbarn über uns begannen einen Heizungskrieg gegen mich und schlugen so lang und heftig gegen ihre Heizung, bis ich endlich leise war.

Wenn ich aus dem Fenster blickte sah ich: Platten. Wenn ich auf dem Balkon stand: noch mehr Platten. Erst waren die Platten graubraun, im Laufe der Jahre mit umfassenden Sanierungsmaßnahmen nahmen sie immer quietschendere Farben und Verzierungen an, von neongelb bis Tier- und Pflanzenmotive. Irgendwie musste ja Leben in die Sache kommen, irgendwie musste den Leuten ja das Gefühl gegeben werden, dass ihre Heimat nicht ganz so trist sei.

Erst lebten wir in Hellersdorf. Dort sind die Platten nicht ganz so hoch, es gibt kaum Hochhäuser. Außerdem gab es da diesen Erholungspark, in dem uns ein Stück Normalität und Schönheit vorgegaukelt wurde. In unserer Freizeit fuhren wir mit unseren Inlineskatern durch die Hinterhöfe der Blöcke oder spielten an den »Ufern« der Wuhle, einem nach Gülle stinkenden vertrockneten »Fluss« im Wuhletal. So richtig Natur kann man das nicht nennen. Die graubraunen Platten in ihren verschiedenen Formen verschmolzen mit den grüngraubraunen Wiesen Brandenburgs. Das wahre Berlin schien sehr weit weg. Nicht mal den Fernsehturm konnten wir am Horizont erkennen. Es war eine eigene Welt, irgendwo zwischen Metropole und Brandenburger Eiland.

In den Häuseraufgängen kamen mir Glatzen entgegen

Marzahn-Hellersdorf: Zwischen Nazis aufwachsen: Meine Jugend im Ost-Berliner Plattenbau

Ende der 90er zogen wir dann nach Marzahn, quasi das Next Level der Plattenbaugebiete. Hier ging nichts unter zehn Geschossen, gruseligen Treppenhäusern, müffelnden Aufzügen. Auch die Leute waren im Laufe der Zeit komischer geworden. Etwas hatte sich geändert. Als Kinder hatten wir uns noch auf den Innenhofspielplätzen die Zeit vertrieben und wurden auch mal von der Oma-Nachbarin gesittet, während die Eltern auf der Arbeit waren. Jetzt waren die Spielplätze verlassen und in den Häuseraufgängen kamen mir Glatzen entgegen. Grölende Skinheads nachts vor dem Fenster waren keine Seltenheit. Wenn man die Cops rief, geschah nicht viel.

Im Dunkeln allein durch die Schluchten der Hochhäuser zu wandeln, war auch selten eine gute Idee, weil du immer vor irgendwelchen Jugendgangs auf der Hut sein musstest. Wenn meine chinesische Schulfreundin, die, wie die meisten meiner Schulfreund*innen in einem Einfamilienhaus im südlichen Teil Hellersdorf-Marzahns lebte, bei mir in der Platte zu Besuch war und wir im Imbiss Döner essen wollten, musste sie eine Tirade an rassistischen Beleidigungen seitens der Imbiss-Gäste über sich ergehen lassen. Der »Ausländer*innen«-Anteil an meiner Schule betrug damals 0,6%. Diese Zahl hat sich bis heute bei mir eingebrannt.

Meine Kommilitonin sollte nicht denken, ich sei im Ghetto aufgewachsen

In den 90ern im Ost-Berliner Plattenbaugebiet aufzuwachsen bedeutete, sich von Anfang an politisch zu positionieren. Nazis und Antifas trugen ihre Kämpfe auf der Straße aus und wir – teils noch unpolitisierten – Kids waren mittendrin. Schon damals lebte ich mit der ständigen Angst, von Rechten eine aufs Maul zu kriegen, falls ich irgendwie auffallen oder jemandem nicht in den Kram passen sollte. Später, als Jugendliche auf einem Ost-Berliner Gymnasium, gehörte es wie selbstverständlich dazu, sich gegen Rechts zu positionieren und engagieren. Unpolitisch sein gab es dort nicht.

Es war 2007 und ich wohnte endlich in Friedrichshain, dem Mekka aller Ost-Berliner Plattenbaukinder, da droppte die Professorin in der Mikrosoziologie-Vorlesung das Wort »Hellersdorf-Marzahn«. Meine Hamburger Kommilitonin drehte sich zu mir um und flüsterte: »Was ist das?«. Da saß ich, und fragte mich, wie ich ihr eine möglichst coole und distanzierte Beschreibung meiner abgefuckten »Heimat« geben könnte, die zwar insidermäßig genug ist, um ihr zu zeigen, dass ich als Berlinerin bescheid weiß, sie aber trotzdem nicht auf die Idee kommen ließ, ich sei im Ghetto aufgewachsen.

Ich habe auch gelernt, dass rechts sein kein Schicksal ist. Es ist eine Entscheidung.

Für mich war immer klar, dass ich dort weg muss. Und das habe ich auch getan. Mit 17 zog ich, noch während des Abiturs, in den Prenzlauer Berg. Dort gab es mittlerweile auch Warmwasser und Heizungen. Seitdem war ich nur noch sporadisch alle paar Jahre in Hellersdorf-Marzahn – und auch dann meist nur, um gegen Naziaufmärsche zu demonstrieren. Wenn heute in den Medien vom erstarkenden Rechtsradikalismus im Osten die Rede ist, dann muss ich mein Gedächtnis nicht lange bemühen um mich zu erinnern, dass der ganze Nazi-Siff schon immer da war. In seiner Gesamtheit vielleicht latenter, in seiner Offenheit punktueller. Irgendwie hat man sich damals wohl eingeredet, die Nazibrut im Griff zu haben. Und ließ sie so, Seite an Seite mit uns, gewähren. Und weiter anwachsen.

Wenn die Leute »Hellersdorf-Marzahn« hören und mir schon wieder abschätzig erzählen, dass ich aus einer Nazi-Hochburg komme, wünsche ich mir manchmal, diesen Teil meiner Identität abstreifen zu können. Wenn heute über den Rechtsruck im Osten geredet wird, ist das für mich nichts Abstraktes, das weit weg ist. Die Zeit in Hellersdorf-Marzahn hat mich geprägt und mir einen tiefen Einblick in die Lebensrealitäten vieler Menschen verschafft, die sich abgehängt und benachteiligt fühlen. Aber ich habe auch gelernt, dass rechts sein kein Schicksal ist. Es ist eine Entscheidung. Und zum Glück haben sich die meisten Menschen aus meinem damaligen Umfeld dagegen entschieden. Dass die Nazipest so ausarten würde, überrascht von uns heute trotzdem niemanden so wirklich. Uns war schon immer klar, dass man etwas dagegen tun muss. Trotz der Initiativen, die es durchaus gab, wussten wir aber, dass es ohne die Unterstützung einer klar antifaschistischen Politik nicht geht.

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