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Haushaltskürzungen gefährden Suizidprävention in Berlin

Ungewisse Förderung setzt Menschenleben aufs Spiel

  • Leonie Hertig
  • Lesedauer: 6 Min.
Bei Suizidgedanken ist schnelle und unbürokratische Hilfe wichtig – zum Beispiel beim Berliner Krisendienst.
Bei Suizidgedanken ist schnelle und unbürokratische Hilfe wichtig – zum Beispiel beim Berliner Krisendienst.

In Berlin sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Tötungsdelikte und Drogenmissbrauch zusammen. 500 Menschen beenden hier im Jahr durchschnittlich ihr Leben – in den Augen der Fachstelle Suizidprävention eindeutig zu viele. Die Fachstelle hat das Ziel, die Zahl der Suizide in Berlin bis 2030 um ein Drittel zu reduzieren. Sie ist Teil eines breiten Netzes von Angeboten zur Suizidprävention, die verschiedene Versorgungsleistungen erfüllen. Doch der aktuelle Haushaltsentwurf bedroht ihre Arbeit.

»Die Haushaltsverhandlungen sind für uns nicht nachvollziehbar«, meint Markus Geißler, Leiter der Fachstelle Suizidprävention, zu »nd«. »Wir sehen zwar, dass dort Posten durch die Gegend geschoben werden, wir wissen jedoch nicht, was für reale Konsequenzen es hat«. Zwar sei der Fachstelle versichert worden, dass der Status Quo erhalten werden soll. Was genau das heißt, sei jedoch unklar. Die Fachstelle Suizidprävention, 2022 mit der Caritas als Träger aus dem Netzwerk Suizidprävention hervorgegangen, informiert und sensibilisiert zum Thema. Mit ihrer Kampagne »Schweigen kostet Leben« möchte die Fachstelle auf das Tabuthema Suizid aufmerksam machen. Zudem hat sie für das Land eine Suizidpräventionsstrategie erarbeitet, die ihm Ende November übergeben wurde. Diese ist noch nicht öffentlich.

Auch der Berliner Krisendienst musste lange um seine Finanzierung fürchten. Sophie Bootz, Gesamtkoordinatorin der Anlaufstelle für Menschen in psychosozialen Krisen und akuten psychischen Notfällen, sagt: »Wir haben erst Ende November Signale der Entwarnung aus dem Abgeordnetenhaus erhalten.« Jetzt seien sie ermutigt und erleichtert. »Gleichzeitig hoffen wir auf eine langfristige Absicherung über das Jahr hinaus«, so Bootz. Der Krisendienst ist von jährlichen Zuwendungen abhängig, die Ungewissheit und einen großen Verwaltungsaufwand zur Konsequenz haben. Unter Kürzungen hätte unter anderem der niedrigschwellige Zugang zu Unterstützung gelitten, es wären längere Wartezeiten zu befürchten gewesen. »Besonders bei Menschen mit akuten Suizidgedanken hätte das tödliche Folgen haben können«, sagt Bootz.

Der Bedarf an psychosozialer Versorgung ist groß. Knapp 90 000 Kontakte mit Menschen in Krisen verzeichnet der Berliner Krisendienst jedes Jahr. Durchschnittlich zehn Gespräche pro Woche führt der Krisendienst mit Menschen, die akut suizidal sind, also kurz davor stehen, sich zu suizidieren. In diesem Stadium ein Gespräch mit dem Krisendienst zu führen, reduziert das Risiko signifikant. »Die meisten Menschen, die suizidal sind, brauchen eine Pause von dem, was alles über ihnen zusammenschlägt«, sagt Winfried Glatz, ebenfalls vom Berliner Krisendienst. 60 Prozent seiner Arbeitszeit machen Dienste aus, in denen er Kontakt mit Menschen in Krisen hat. Dabei sei die wesentliche Aufgabe, herauszufinden, worum es wirklich geht, und Lösungen zu erarbeiten. Glatz meint: »Suizidale Menschen isolieren sich von außen und können die Welt nur in einem Tunnelblick sehen. Alles, was diesen Tunnel öffnet, wie zum Beispiel ein Gespräch, ist hochpräventiv.« Daher sei es auf institutioneller Ebene wichtig, für Strukturen zu sorgen, die in solchen Fällen sofort zur Verfügung stehen.

»Dass jemand mit einer schweren Depression viele Wochen auf einen Facharzttermin warten muss, ist inakzeptabel.«

Ulrich Hegerl
Stiftung Deutsche Depressionshilfe
und Suizidprävention

Bootz betont allerdings, dass es im psychosozialen Bereich immer um eine gemeinsame Versorgungsleistung gehe: Menschen in Krisen könnten nur dann eine effektive und stabile Unterstützung finden, wenn die verschiedenen Angebote in Berlin gut zusammenwirken. »Wir als Berliner Krisendienst müssen zum Beispiel auf Kontakt- und Beratungsstellen für Menschen mit psychischer Erkrankung in den Bezirken verweisen können«, so Bootz.

Mehrere Bezirke hätten allerdings bereits die Schließung von Kontakt- und Beratungsstellen angekündigt, kritisiert der Landesbeirat für Menschen mit Behinderungen in einem Statement vom November. Das Statement wendet sich gegen die Kürzungen im Bereich psychosoziale Hilfen und Suizidprävention. Der Landesbeirat fordert einen flächendeckenden und niedrigschwelligen Zugang und die Berücksichtigung besonders vulnerabler Gruppen.

Den Zusammenhang von Suizidprävention und psychischen Erkrankungen hebt auch Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention, hervor. »Hinter vielen Suiziden stehen nicht erkannte, nicht behandelte psychische Erkrankungen«, erklärt er »nd«. Vor allem Depressionen spielten dabei eine große Rolle. Typisch für Depressionen ist, keine Gefühle mehr empfinden zu können, sich versteinert und hoffnungslos zu fühlen. Der Alltag wird als unerträglich erlebt. »Der hohe Leidensdruck und die Hoffnungslosigkeit lassen dann den Suizid als einzigen Ausweg erscheinen«, so Hegerl. »Aber Depressionen sind gut behandelbar.«

Daher nennen sowohl die WHO als auch die EU die von Hegerl entwickelten gemeindebasierten Bündnisse gegen Depression als empfehlenswerten Ansatz für die Suizidprävention. Diese Bündnisse kombinieren die Ziele der besseren Versorgung von Menschen mit Depressionen und die Prävention von Suizid und Suizidversuchen. Ein wesentlicher Bestandteil dessen sind Fortbildungen von und Kooperationen mit Hausärzt*innen. »Das sind die ersten Anlaufstellen, auch wenn das nicht so bekannt ist«, meint Hegerl. Daneben spielen Öffentlichkeitsarbeit und Entstigmatisierung von Depressionen sowie Fortbildungen für Multiplikator*innen eine essenzielle Rolle. Als Multiplikator*innen können Lehrer*innen, Pfarrer*innen, Pflegekräfte, Journalist*innen oder Einsatzkräfte auftreten. Zuletzt sei die Unterstützung von Betroffenen und deren Angehörigen unter anderem mit Informationsmaterialien zur Stärkung der Selbsthilfe wichtig.

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Zu diesem Zweck sei es bedeutsam zu wissen, welche Anlaufstellen es gebe, so Hegerl. Er fordert unter anderem mehr kassenärztliche Zulassungen für Fachärzt*innen, um eine schnelle Erreichbarkeit zu gewährleisten. Die langen Wartezeiten bei Fachärzt*innen und Psychotherapeut*innen sieht er äußerst kritisch. »Dass jemand mit einer schweren Depression viele Wochen auf einen Facharzttermin warten muss, ist inakzeptabel«, so Hegerl. »Die Erkrankten brauchen viel Energie, um einen Termin zu ergattern – Energie, die depressiv Erkrankte gar nicht haben.« Sogar nach einem stationären Aufenthalt dauere es sehr lange, bis man einen Therapieplatz erhält. »Das ist ein großes Problem«, sagt auch Markus Geißler von der Fachstelle Suizidprävention.

Wie viele Menschen aufgrund von Suizidgedanken in psychiatrischen Kliniken jährlich in Berlin behandelt werden, konnte weder über Kontaktaufnahme mit Norma Kusserow, Landesbeauftragte für psychische Gesundheit, noch über die Pressestelle der Senatsverwaltung für Gesundheit noch über die behandelnden Kliniken ermittelt werden. Auch Wartelisten für chronisch Suizidgefährdete waren nicht zu ermitteln. Ebenso wenig lagen der Gesundheitsverwaltung Wartelisten bei niedergelassenen Fachärzt*innen und Psychotherapeut*innen vor.

Derzeit liegt der Haushaltsplan 2026 dem Abgeordnetenhaus zur Abstimmung vor. Ende Dezember werden die Fachstelle Suizidprävention und andere Träger erfahren, wie es für sie weitergehen wird.

Wenn Sie Suizidgedanken haben, holen Sie sich Hilfe. Der Berliner Krisendienst bietet kostenlos Unterstützung telefonisch und an neun Standorten an. Die Telefonnummer ist auf berliner-krisendienst.de auffindbar. Deutschlandweit ist die Telefonseelsorge über 0800 1110111 erreichbar. Wenn Ihre Sicherheit oder die Sicherheit anderer gefährdet ist, rufen Sie die Nummer 112 an.

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